Die Seherin der Kelten
und sich nichts anmerken zu lassen, geschweige denn etwas zu sagen.
Cunomar hatte Graine auf den Schaffellen abgelegt, die entlang der Wand aufgeschichtet worden waren. Dann hatte er sich wieder aufgerichtet und lediglich bemerkt: »Das ist nicht so schlimm. Ein Ohr ist ein recht kleiner Preis, wenn man dafür sein Leben behält.«
Sprachlos hatte Breaca genickt. Ihr wunderschöner Kriegersohn mit dem goldenen Haar war nicht mehr länger schön. Irgendwann im Verlauf des Tages hatte er sich das Haar an den Schläfen, an den Seiten und bis zum Hinterkopf hinab abrasiert, so dass sein eines Ohr stolz und ungehindert vom Kopf abstand und das andere, das nicht mehr da war, nur noch einen schwarzen Klumpen alten, verkrusteten Blutes darstellte, wobei das Loch, welches sich in seiner Mitte befand, von Airmid mit zusammengerollten Blättern ausgestopft worden war, damit es offen blieb. Einst war Cunomar wunderschön gewesen, nun aber war er für alle Zeit entstellt, und er wusste es.
»Das ist nicht so schlimm«, sagte er noch einmal. »Wir leben. Und wir haben einen Krieg zu kämpfen und zu gewinnen. Sollte das hier also bereits das Schlimmste gewesen sein, das uns erwartete, werden wir am Ende sogar noch glücklich darüber sein.«
Er hatte Recht, zumindest, was ihn anging, nicht aber, soweit es Graine betraf, die kindliche Träumerin, die sich fortan fürchtete zu schlafen, die nachts schrie, bis sie selbst davon erwachte, und anschließend stocksteif dalag und einfach nur in die Dunkelheit starrte. Selbst all jene Dinge, die ihr einst Halt verliehen hatten, boten ihr nun keinerlei Hilfe und Sicherheit mehr; sie konnte die Ältere Großmutter nicht mehr anrufen, hörte keine Ahnenträumerin mehr, und auch der Hase, der einst durch ihre Träume gerannt war, war verschwunden.
Unter vier Augen hatte Airmid Breaca gesagt, dass die Gabe des Träumens Graine womöglich für immer verlassen hätte, oder aber, dass sie später einmal wieder zurückkehren würde und dann nur noch umso stärker ausgeprägt wäre; dass es unmöglich sei, dies vorauszusagen, bis all jene Teile ihres Inneren, die zerbrochen waren, wieder zusammengewachsen wären, dass man eine solche Heilung nicht beschleunigen könne und dass es Tage dauern könne oder Monate oder gar Jahre oder sogar noch über Graines Leben hinaus.
»Und es gibt nichts, was irgendjemand von uns für sie tun könnte, außer dass wir für sie sorgen«, hatte Airmid schließlich noch gesagt, und Breaca hatte unterdessen bloß die Wand angestarrt, sich auf die Unterlippe gebissen und einfach nichts entgegnet. Denn in ihrem gegenwärtigen Zustand konnte sie für Graine noch nicht einmal mehr sorgen, und die Verzweiflung darüber trieb sie geradezu in den Wahnsinn.
Nun zwang Graine sich, vom Bett aus bis zur Tür hinüberzugehen und wieder zurück. Draußen loderte ein wohlriechendes Feuer, und der Wind trieb einige kleine Rauchfähnchen davon in die Hütte. Graine sog den Geruch ein, lächelte schwach und nahm ein Stück Käse, ganz so, als ob ihr dies den Weg zurück zum Bett ein wenig erleichtern würde.
»Cygfa mag ihn«, sagte Graine, »deinen Bruder. Ardacos hat es mir erzählt. Sie richtet ihr Pferd gerade darauf ab, genauso zu kämpfen wie das Krähenpferd.«
»Tut sie das? Ich glaube allerdings nicht, dass man es einem Tier anerziehen kann, wie das Krähenpferd zu kämpfen. Kannst du das hier trinken?« Breaca bot Graine einen Becher Milch an und half ihr beim Trinken. Anschließend blieb sie noch neben ihr stehen, hielt ihre schmalen Schultern und versuchte, ihr etwas Trost zu spenden. »Ist Cygfa denn schon wieder so kräftig, dass sie reiten kann?«
»Noch nicht ganz. Aber sie will ja nicht auf Airmid hören. Sie sagte zwar, dass sie sich ausruhen würde, aber sie ist trotzdem aufgestanden und hat den Morgen damit verbracht, mit den neuen Kriegern zu trainieren. Und den Nachmittag über hat sie sich mit deinem Bruder über dessen Pferd unterhalten. Er ist ein Träumer, nicht wahr, kein Krieger oder Schmied?«
»Valerius? Er ist alles drei, aber, ja, vor allem ist er ein Träumer. Woher weißt du das?«
»In seiner Seele lebt ein Hund. So wie in Airmids Seele ein Frosch lebt und in deiner der Schlangenspeer.« Graine legte den Kopf in den Nacken und musterte ihre Mutter aufmerksam. »Das ist neu«, fügte sie dann hinzu. »Und stärker.« Noch immer schaute sie Breaca an, und ihre Gesichtszüge schienen zu verschwimmen - als ob Graine ein wenig verschlafen sei -,
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