Die Seherin von Knossos
sehen. Die blakende Lampe erlosch, und Sibylla kreischte bibbernd auf.
Skelettartige Finger tasteten nach ihr und bohrten in ihr, bis Sibylla sich voller Angst in einen Winkel ihres Geistes zurückzog. Ein anderer Teil ihrer selbst, eine kräftigere, anpassungsfähigere Psyche trat vor.
Chloe zog sich den Umhang vom Kopf und starrte in die Dunkelheit.
Heilige Scheiße! Schon wieder steckte sie im Körper einer anderen Frau. War sie sich dessen sicher? Wer bin ich?, fragte sie sich hastig. Chloe Bennett Kingsley, Zweiter Lieutenant, Dienstnummer 044-65-1089. Geboren am 28. Dezember 1970. Zweites von drei Kindern eines amerikanischen Diplomaten und einer englischen Archäologin. Eine ältere Schwester namens Camille, eine Ägyptologin. Ein jüngerer Bruder namens Caius, das schwarze Schaf der Familie. Großmutter Mimi, verstorben. Abschluss in Kommunikationswissenschaften. Wohnhaft 767 Amber Lane, Dallas, Texas 75007.
Chloe schluckte. Das waren ihre Lebensdaten. So weit, so gut.
Wo war sie also? Sie steckte nicht in ihrer eigenen Haut - ihr eigenes Haar war nicht schwarz. Wer also war ihr Gastkörper? Sie hatte den Eindruck, ihre Umgebung wie durch welliges Wasser wahrzunehmen. Nichts war klar. Nichts war erkennbar. Die andere Psyche in diesem Körper, Sibylla, tat die meiste Zeit so, als wäre Chloe gar nicht vorhanden. Auf gar keinen Fall war sie willkommen, erkannte Chloe. Das war einer der wenigen klaren Gedanken, die sie zu Stande gebracht hatte während der vergangenen - wie lange war sie schon hier?
Wie soll ich irgendwas begreifen, wenn ich ihn nicht mal »lenken« kann? Wir müssen einen Body-Leasing Vertrag ausarbeiten. Ich lebe in diesem Körper, als würde ich mit einer Marionette hantieren; ich bin ein lebendiges Kasperltheater.
O Gott.
Wo war Cheftu? Der Schmerz über seinen Verlust war so bedrückend, dass sie im Dunkel zu wimmern begann. Ihnen war so wenig Zeit miteinander vergönnt gewesen.
Wenn sie nicht in die Moderne zurückgekehrt war, und das war sie vermutlich nicht - Höhlen waren als Unterkünfte eher antiquiert -, wo war sie dann gelandet? Wo war er? War er im Alten Ägypten geblieben? War er in die Zukunft gereist? Hatte er wirklich verstanden, dass sie ihn nicht verlassen wollte? Hatte er, ... o Gott, war er noch am Leben? Chloe kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Wusste er, dass sie noch am Leben war? Wusste er, wo sie war? Wusste sie , wo sie war? Wo war sie hier?
Die Vision, Sibyllas Zerstörungsvision, stieg hinter Chloes Lidern auf. Weil sie die Vision nicht »selbst« gesehen hatte, waren die Ränder ausgefranst, und das Bild blieb blass: wie auf einer geistigen Daguerreotypie. Wellen, Feuer, Erdbeben . war sie auf Grund ihrer Ausbildung als Katastrophenhelferin hier? Ganz zu schweigen von ihren Erfahrungen im Katastropheneinsatz. Wenn es wirklich hart auf hart kam, aßen die Harten auch Heuschrecken.
O Cheftu, o lieber Gott, wie ich dich vermisse ...
Chloe schüttelte den Kopf, allerdings brauchte sie ein paar Sekunden, um die Absicht in die Tat umzusetzen. Sie fühlte sich in diesem Körper nicht recht zu Hause.
Ich klinge wie ein Gast in einer Primitiv-Talk-Show: »Moderne Frauen und die vorzeitlichen Körper, die sie bewohnen.«
»Jetzt geht’s aber los.« Selbst ihre Stimme klang ein wenig anders - von der Sprache ganz zu schweigen!
Wenn ich hier bin, in Sibyllas Körper, wo ist dann der Körper von Ra Em geblieben - meiner früheren Gastgeberin -, wo ist mein Körper, und wo ist Ra Em? Ra Em und ich haben schon früher Plätze getauscht, ist Ra Em also immer noch in meinem Körper im Ägypten der Neuzeit? Hat Cammy gemerkt, dass ich nicht ich bin?
Wo war Cheftu? Ich brauche dich, dachte sie. Zu dumm, dass ich mir das nicht früher eingestanden habe. Gott. Cheftu, ich brauche dich! Nur er würde die Ironie in all dem sehen, nur er würde verstehen, warum sie am liebsten über die Idiotie dieser Geschichte gelacht hätte, während sie in Wirklichkeit weinte.
Chloe schlang die Arme um ihren Leib. Feuer, Riesenwellen und Erdbeben. Willkommen in Sibyllas Welt. Es gab noch etwas, nach dem sie sich verzehrte, fast so sehr wie nach Cheftus Berührung, wie nach einem Blick aus seinen goldenen Augen.
Sie hätte auf ihren Nerven Geige spielen könne. Wenn sie einen Geigenbogen gehabt hätte .
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Mann, was würde ich jetzt für eine Zigarette geben.
Die Morgendämmerung kam, und mit ihr kamen die Frauen
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