Die Seherin von Knossos
drohte Gefahr.
Freunde waren Feinde, die nur auf die richtige Gelegenheit warteten, Kinder waren die Samen für die eigene Vernichtung, und selbst die Göttin war launisch in ihrer Gunst. Alle akuten Gefahren hatte Kela-Ileana ausgeräumt.
Und doch lebte und atmete die Gefahr weiter - in Vena, Sibylla, Selena ...
Doch nicht mehr lange.
KAPHTOR
Sie erwachte in der Dunkelheit der Höhle, doch die Umgebung kam ihr nicht vertraut vor, sondern ungewohnt. Wieder beschlich Sibylla Unbehagen. Sie rieb sich die Augen und streckte die Hand nach der Alabasterlampe neben ihrem Lager aus. Eine eisige Bö fuhr durch die Halle.
»Das ist mein Leib!«, schien sie von überall zu hören.
»Gib ihn mir zurück!«
Die Stimme klang wie ihre eigene, verängstigt und wütend. Wieso hörte sie ihre Stimme von außen? Es ist der Teil meiner Psyche, der nicht zurückgekehrt ist, dachte sie. Dafür hasst er mich. Die Stimme verwehte mit dem Wind, und Sibylla zündete mit zitternden Fingern die Öllampe an.
Sie lebte in einem schmucklosen Raum mit weiß gekalkten Wänden; auf einem Gestell lag eine Matratze aus getrockneten
Blättern und Kräutern. Ihre wenigen Habseligkeiten aus Kalli-stae standen beisammen auf einem kleinen Koffer. An Wandhaken waren zwei weitere Röcke und Jacken aufgehängt.
Der Kontrast ist wirklich sehenswert, hörte sie die Stimme in ihrem Inneren sagen, aber was hat es zu bedeuten, und wo bin ich? Sibylla blickte auf den safrangelben und purpurroten Rock vor der weiß-schwarz umrahmten Wand und musste zugeben, dass es ein schönes Bild war, wenngleich es so alltäglich war, dass ihr nicht in den Sinn wollte, wieso es ihr plötzlich auffiel. Sie ignorierte die Frage in ihrem Kopf, wo sie hier war. Sie war in Kaphtor, in der Höhle, wo der Geist Kelas hauste. Jenseits des Meeres lagen die übrigen Inseln des Aztlantischen Imperiums - ihre Heimat. Sie wusste, wo sie war. Sibylla stand auf und begann, das ohnehin ordentliche Zimmer aufzuräumen.
Etwas Unaussprechliches war geschehen und geschah immer noch mit ihr.
Sie fühlte sich ... einsam. Es war ein komisches Gefühl, eines, das Sibylla, so weit sie sich erinnern konnte, nie zuvor gehabt hatte. In ihrem Kopf blitzten Bilder von einem Mann auf, ähnlich den Männern in ihrer Umgebung und doch anders. In ihrer Wahrnehmung schien er zu leuchten, und sie sah Dinge in ihm, die den meisten anderen Augen verborgen blieben.
Aufrichtigkeit, Geschicklichkeit, Ehrlichkeit, Witz, Sinnlichkeit ... all das strömte in farbigen Lichtstrahlen von ihm aus. Sie hatte ihn noch nie gesehen, und doch kannte sie ihn. Etwas in ihrem Geist trauerte um ihn. Das war nicht ihre eigene Erinnerung, ihre eigene Vision.
War es eine Botschaft von Kela?
Die Stimme in ihr schrie frustriert auf, und Sibylla musste gegen den Drang kämpfen, einfach loszurennen, nötigenfalls bis nach Knossos. Diese Kammer mit dem heulenden Skia, ihr Geist mit der weinenden, unbekannten Psyche waren ihr einfach zu viel.
Sie warf einen Umhang über die Schultern und trat ins Freie.
Hinter ihr flackerte schwächlich die Lampe. Weißer Kalkstaub hing an ihren Röcken und Füßen. Sie atmete tief die Nachtluft ein, bis sie die Kälte in der Brust brennen spürte. Hoch über ihr hingen die Sterne wie Trauben am Rebstock des Himmels, und Sibylla spürte Tränen in ihren Augen.
Warum in Kelas Namen musste sie weinen? Das Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung war so stark, so überwältigend, dass sie die Schluchzer nicht länger zurückhalten konnte. Laut und schroff hallte ihr Heulen durch die stille Nacht. Sibylla hatte keine Ahnung, wie lange sie weinte, wie oft sie ihr Gesicht abwischte und die Arme um ihren Leib schlang, aus Sehnsucht, das Mitleid eines anderen Menschen zu spüren.
Eines unbekannten, namenlosen Menschen.
Schließlich stolperte sie erschöpft zurück in den Höhleneingang. Missgunst schlug ihr entgegen wie beissender Gestank. In sich zusammengesunken blickte Sibylla in die Schatten.
Dort warteten Skia auf sie. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, wagte sie sich tiefer in die Höhle vor. Die Skia umzingelten sie und trommelten voller Zorn, Enttäuschung, Schmerz, Wut auf ihren Verstand ein, bis ihre Gefühle nur noch eine breiige Masse waren.
Sibylla legte die letzten Schritte zu ihrem Bettgestell im Laufen zurück und rollte sich hastig unter ihrem Umhang zusammen. Die Nacht selbst schien zu ihr zu flüstern. Noch nie hatte sie sich so danach gesehnt, die Morgendämmerung zu
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