Die Seherin von Knossos
spürte sie die Sonne auf ihren Brüsten, ihrem Gesicht, auf Händen und Füßen. Ihr Geist schien zur Ruhe gekommen zu sein und vollauf damit zufrieden, zu dieser Frauengemeinschaft zu gehören. Nach dem Aufwachen tranken sie noch mehr Wein. Heute war ein besonderer Tag, denn das süße Mädchen, das in Sibyllas Vision aufgetaucht war, würde nach dem Vollmond heiraten. Ob die Herrin Sibylla die Vermählung mit ihrer Anwesenheit beglücken würde? Die Vision war verblasst und leicht zu vergessen. Eine Hochzeitsfeier würde ihnen allen Mut machen. Lächelnd sagte Sibylla zu.
Die Braut war beinahe vierzehn Sommer alt. Ihr Leib hatte sich ein wenig früher entwickelt als ihr Geist. Umringt von Tanten, Cousinen, Schwestern und ihrer Mutter lauschte sie mit großen Augen ihrer Großmutter, die ihre Hände nahm und ihr von den Mysterien der Hochzeitsnacht erzählte. Unter lautem Gekicher und den Kommentaren der Matronen wurden alle Fragen des Mädchens beantwortet, bis ihre blitzenden braunen
Augen keine Angst mehr zeigten.
Zurückgelehnt sann Sibylla darüber nach, wie sehr sich die ländliche Vasalleninsel Kaphtor von den kosmopolitischen Inseln Aztlans unterschied. War es auf Aztlan ähnlich gewesen, als es noch keine Sippen gab und die Familien nur durch Blutsbande verbunden waren? In Kaphtor tat jeder von allem etwas; jeder besaß einen eigenen Garten, eine eigene Ziege, jeder krempelte seine eigene Wolle, webte sein eigenes Gewand. Daheim in Aztlan hatte jede Sippe eine ihr zugewiesene Aufgabe im Imperium. Die Seesoldaten befuhren die Meere, die Künstler auf Delos verschönerten das Imperium, ihre eigene Sippe fütterte und versorgte das Vieh.
Gemeinsam betraten sie die heilige Höhle und badeten die Braut im eisigen Wasser der heiligen Quelle. Sie rieben ihre Haut mit frischen Kräutern und Blumen trocken und führten sie dann nach draußen. Eine ältere Tante mischte Henna an und begann mit eleganten Strichen die Hand der Braut zu bemalen.
Sibyllas Blick fiel auf ihre eigene langfingrige, elegante Hand. Sie trug keine Ehezeichen. Um ihr Handgelenk und über ihre Finger wand sich keine Tätowierung, an der sich erkennen ließ, dass sie verheiratet war. Würde sie jemals solche Liebe empfinden? Das habe ich schon, hörte sie eine ungeduldige Stimme sagen. Ich habe ihn verloren, was zum Teufel habe ich hier also zu suchen?
Verwirrt versuchte Sibylla die Stimme in ihrem Kopf zu überhören und konzentrierte sich auf die Feier. Dies sei ihre jüngste Enkelin, hatte die verwirrte Alte, die sie anführte, stolz verkündet. Möge es Kelas Wunsch sein, dass ihr bis zur nächsten Ernte eine Urenkelin geschenkt würde. Die Braut errötete, und die Frauen lachten. Sibylla schüttelte ihre Beklommenheit ab - bestimmt war sie von ihrer Vision irregeführt worden.
Kela würde sie doch nicht zu Schaden kommen lassen, oder?
Die Frauen des Dorfes kämmten der Braut das Haar, flochten es in mehreren Abschnitten und webten zu Ehren der Göttin als
Braut eine ungerade Anzahl von Verzierungen hinein.
In Aztlan würde die Braut Gold, Silber oder Edelsteine tragen, doch die Kaphtori waren arm und reich nur an Kräutern, Blumen, Bändern. Die politische Lage kam vor allem Aztlan zugute.
Schließlich waren die Hände der Braut fertig geschmückt: Gemalte Girlanden und Blumen wanden sich über ihre Handflächen und die inneren Handgelenke, und in der Mitte ihrer linken Handfläche prangte der Schmetterling Kelas.
Bitte lass all dies nicht vergebens sein, flehte Sibylla die Göttin an. Sie ist so jung, so voller Leben. Bitte verschone diese Menschen.
Doch Sibylla meinte bereits verbranntes Fleisch zu riechen.
2. KAPITEL
JANUAR 1996, ÄGYPTEN
Über Tausende von Jahren war das Geheimnis gehütet worden. Gut verborgen unter und in tonnenschwerem Gestein, hatte es auf jene gewartet, die ausersehen waren.
Als lebender Wachposten saß der letzte Löwe auf einem der raren Schattenflecken in der östlichen Wüste Ägyptens, den braunäugigen Blick in die Ferne gerichtet, wo Menschenwesen arbeiteten, die Erde beiseite schafften und sich in den Boden wühlten wie Schakale. Sie arbeiteten in der Grube, wo seine Ahnen gestorben waren. Sie hatten ihr Leben gegeben, Wache haltend, wartend, schützend.
Nun war die Reihe an ihm.
Nur das instinktive Bedürfnis, zu dieser Grube zurückzukehren, trieb ihn an. Er leckte sich die Pfoten sauber, ohne den Blick von den Menschenwesen zu nehmen. Alle waren nun in der Grube verschwunden.
Der
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