Die Seherin von Knossos
baumelte an einer Kette gegen seinen Schenkel.
Seine Beine. O Kela!
Seine Augen hatten immer noch die Farbe warmen Honigs, der von schwarzen Ringen umgeben war. Trotz seines Lächelns sah er leidgeprüft aus. Er sehnt sich nach mir, dachte sie, und Tränen sammelten sich an ihren Wimpern. Chloe konnte sich nur mühsam davon abhalten, zu ihm zu laufen und ihre Arme, Beine, Lippen um ihn zu schlingen. Ich bin Sibylla, ermahnte sie sich. Ganz ruhig. Er wird mich schon erkennen, er muss mich einfach erkennen!
Cheftu saß neben Dion. Dion, der sie ganz eindeutig als Sibylla wiedererkennen würde. Im selben Moment wurde ihr klar, dass die schönsten Frauen der Insel sich um die beiden Männer drängten und ihre Knie, Beine, Schultern berührten. Chloe spürte, wie ihr Blutdruck anstieg, und kämpfte den Drang nieder, sie alle miteinander zu erwürgen, Cheftu eingeschlossen. Er sprach schleppend, und ihr wurde klar, dass er betrunken war.
Cheftu war betrunken? Das war mal was Neues.
Vena legte ihre Hand, kühl und auf plumpe Art weiblich, auf Chices Arm. »Komm mit, Cousine, der Spiralenmeister wartet.« Sie ist nicht meine Cousine, zischte Sibylla. Chloe schüttelte den Kopf, und sie schoben sich nach vorne. Verglichen mit der Strenge des Protokolls am ägyptischen Hof war dies hier ein Volksfest. Dion sah sie zuerst und winkte sie lächelnd näher.
»Spiralenmeister Cheftu«, er legte eine Hand auf Cheftus Schulter, »ich möchte dir meine Cousine Vena und meine Sippenschwester Sibylla vorstellen. Vena ist eine Hündin in Hitze; nimm dich vor den Zähnen unter den bemalten Lippen in Acht. Sibylla ist ein Orakel, sie weiß also stets, wie du von ihr denkst.«
Vena warf Dion einen wutentbrannten Blick zu, und Cheftu sah unter einer gemurmelten Begrüßung zu ihr hin, ehe sein Blick auf Chloe fiel.
Cheftus Miene gefror, und Chloe dachte: Jaaaa! Doch im nächsten Moment wandte er sich wieder ab und schaute Vena an.
Chloe fühlte sich wie geohrfeigt, doch dann begriff sie, dass er wahrscheinlich keinen falschen Eindruck erwecken wollte. Es wäre ziemlich unpassend, wenn sich zwei Fremde mitten im Festsaal zu lieben anfangen würden; das könnte einige Fragen aufwerfen. Natürlich, dachte sie, er ist einfach nur vorsichtig.
Sie biss die Zähne zusammen, als Cheftu Vena auf seinen Schoß zog und dabei verkündete, er wüsste schon einige Stellen, an denen ihm ein Biss nichts ausmachen würde. Aschfahl im Gesicht und den Tränen nahe ließ Chloe sich neben Dion nieder. »Was ist denn, Sib?«, flüsterte Dion. »Du hast gar keine Farbe mehr im Gesicht, und ich könnte bei den Hörnern Apis’ schwören, dass deine Augen grün sind!«
Auch wenn sie nicht hinsah, wüsste Chloe, spürte sie, wie Cheftu Vena befingerte, wie seine langfingrigen Hände ihre Taille betasteten. Bebend vor Wut und Pein nahm Chloe einen Rhyton entgegen und leerte ihn auf einen Sitz. Sie fühlte sich bis ins Mark getroffen. Cheftu hatte sie wiedererkannt, davon war sie überzeugt! War das -
»Weine nicht, Sib«, sagte Dion und zog sie näher. »Komm, iss das Kollava-Begräbnismahl für deinen Pateeras Posidios mit mir.«
Wortlos den Kopf schüttelnd, lehnte sich Chloe an Dion und ließ sich von ihm aus dem Raum führen.
Fort von Cheftu.
Er sah sie weggehen, an Dion klebend, als wäre er ein Boot und sie eine Entenmuschel. Selbst jetzt, inmitten dieses festlichen Trubels, musste er an ihren Körper denken und daran, wie sie ihn gehalten hatte. Vena wand sich auf seinem Schoß, und Cheftu verzehrte sich nach noch mehr Wein.
Sie war so schön ... so ... vertraut.
Es sind die grünen Augen und das schwarze Haar, ermahnte er sich. Du suchst doch nur nach Chloe. Sie ist nicht hier! Du musst weiterleben. Ich will aber nicht, dachte er, Gott vergebe mir, doch ich würde meinen Körper in Sibylla versenken, nur um mich Chloe nahe zu fühlen.
Wie pervers er geworden war.
Vena verließ ihn, um sich unter die anderen langhaarigen
Aztlantu mit ihren bemalten Augen zu mischen, und Cheftu besah sich die Vorbeiziehenden. Sie grüßten ihn, stellten sich vor, doch er merkte, dass er immer wieder an ihnen vorbei nach Sibylla sah. Dem Orakel.
Ich habe sie gefragt, ob sie eine Tempeltänzerin ist. Sie hat geantwortet, wenn ich es wünschte. Bei den Göttern, was für eine Beleidigung muss das gewesen sein! Er blickte in den Wein in seinem Becher, unschlüssig, ob er ihn austrinken sollte oder nicht. Warum auch nicht? Was tat das schon zur Sache? Er hatte
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