Die Seherin von Knossos
ein, während sie mit der anderen Hand die Besitztümer ihres Wohltäters durchwühlte.
An den gegenüberliegenden Enden seiner Truhe lagen zwei Seidenflicken aus Kos. Sie zog einen davon heraus und erkannte den schwarzen Stein wieder, den sie über Nikos Schulter hinweg gesehen hatte. Dann rollte sie den zweiten Stein aus dem Stoff und legte ihn daneben.
Die Steine bewegten sich!
Neotne musste einen Aufschrei unterdrücken, als sie beobachtete, wie die Steine zu kreisen und zu kippeln begannen. Sie waren von schwachen Zeichen eines rätselhaften Textes überzogen und Neotne spürte Tränen unter ihren Lidern. Es war eine ihr unbekannte Sprache.
Die Steine drehten sich und rotierten wie in einem Wirbelwind. Wie sollte sie sie wieder verstauen? Ihre Verzweiflung drohte sie fast zu ersticken, doch dann entdeckte sie das klobige Lehmtäfelchen. Neben jeder Markierung des Steines war die aztlantische Übersetzung verzeichnet.
Vor Angst und Anspannung bebend, nahm Neotne die widerspenstigen Steine in ihre Hand und warf sie, so wie sie es bei Niko gesehen hatte. In tiefer, nach wochenlangem Schweigen rauer Stimme - wozu sollte sie sprechen, wenn die Götter ihr kein Gehör schenkten? - stellte Neotne ihre Frage.
»Lebt Y’carus noch?«
Die Steine drehten sich dreimal, schnell verglich sie die Markierungen, dann wiederholte sie das Ganze. Ein Hochgefühl durchschoss sie so schnell, dass ihr schwindlig wurde. Ja! Y’carus war am Leben! Ihr lag schon die Frage auf den Lippen, wo sie ihn finden konnte, als ihr Blick auf ihre fehlende Hand fiel.
Von ihrer Hand aus wanderte er über ihren Arm aufwärts bis zu ihren verkohlten Brüsten. Sie konnte nur noch auf einem Auge sehen; nur noch mit einer Faust greifen. Y’carus war am Leben, und er hatte sie geliebt. Doch die Frau, die sie damals gewesen war, gab es nicht mehr. An ihrer Stelle existierte ein neues Wesen. Ein Wesen, das die meisten Menschen abstoßend fanden; und jenen mitleidigen, ängstlichen Blick in Y’carus’ Augen zu sehen, hätte sie nicht ertragen.
Sie würde ihn nicht suchen. Sie würde Aztlan verlassen, in die Ferne ziehen. Vielleicht würde sie in kommenden Sommern den Mut finden, ein neues Leben zu beginnen. »Was erwartet mich?«, flüsterte sie unter weggeblinzelten Tränen. Sie musste stark sein; sie war jetzt auf sich gestellt. Niko hatte sie gut behandelt, er hatte sie vor dem sicheren, schmerzhaften Tod bewahrt, doch er brauchte sie nicht. Er erduldete sie, doch in seiner Psyche war keine Wärme, keine Liebe.
Die Steine glitten aus ihren Fingern auf den Tisch. Diesmal brauchte sie wesentlich mehr Zeit für die Antwort, denn sie kontrollierte jeden Buchstaben dreimal nach.
»S-E-I-B-E-R-E-I-T-W-E-I-T-F-O-R-T-Z-U-S-E-G-E-L-N.«
»Wer bist du?«
»D-I-E-S-T-I-M-M-E-V-O-N-I-C-H-B-I-N.«
Die Steine schienen sich in ihre Handfläche zu brennen, als sie beide in ihre seidenen Taschen zurückstopfte, weit voneinander getrennt, damit sie ruhig blieben, um sie dann in die Kiste zurückzulegen. Sie musste ihre Abreise vorbereiten. Sie würde tapfer sein müssen.
17. KAPITEL
Die Ruhe vor dem Sturm neigte sich allmählich dem Ende zu. Kleine Beben, tief unter der Erdoberfläche, machten den Anfang. Dadurch verschob sich das Felsgestein, und glühende Lava wurde hoch gedrückt, die aus dem Herzen der Erde nach oben schoss, sprudelnd wie Blut nach dem Abnehmen einer Aderpresse. Je weiter sich die Gesteinsverschiebungen nach oben fortsetzten, desto höher kletterte der Lavapegel. Auf dem Meeresboden stiegen lautlose Rauchfahnen voller Gestein, Gas und Dampf auf, in denen die Fische gegrillt und die Meeresflora geröstet wurde.
Die Beben nahmen kein Ende, sie pflanzten sich im Höhersteigen in Wellen bis über den Meeresspiegel fort und drängten in die noch verbliebenen Kanäle der ägäischen Meeresspalte hinein. Während oben Schiffe mit indigofarbenen Segeln dahinzogen, brach der sandige Meeresgrund auf, von Nord nach Süd und von Ost nach West, wobei erst dutzende, dann hunderte weitere Risse auftraten.
Das in den aufragenden Kegeln schlummernde flüssige Gestein drängte nach oben, ehe es zurücksackte und sich dabei verdichtete und verstärkte. Hunderte von teils spürbaren, teils nicht spürbaren Erdbeben verschoben und erschütterten die köchelnde, geschmeidige Masse.
Die Schüler wandelten wie Skia durch die Nebengassen der Stadt. Y’carus war tatsächlich im Hafen. Cheftu spürte ein Brennen in seinem Leib, eine Warnung, dass ihm die
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