Die Seherin von Knossos
schlief, nicht einmal ein Qualmwölkchen stieg aus dem spitzen Kegel auf. Die Priester hielten die Berge
Stronghyle und Gaia unter Beobachtung, doch Apis ruhte. Phoebus hatte die Götter beschwichtigt. Er hatte sich in ihre Zahl eingereiht.
Hreesos war überall zu sehen. Immer im weißen Umhang, sodass nur seine blauen Augen und ein Blitzen von Gold unter seiner Kapuze zu sehen war. Niko, sein Zauberer, war stets an seiner Seite, genau wie Eumelos, sein Erstgeborener, der zu zittern begann, sobald sein Vater aus seinem Blickfeld verschwand. Von der Spitze Hydraussas bis zu den Pylonen auf den Wellenbrecherinseln inspizierte der Goldene Stier die Arbeiten, überall ermutigte und unterstützte er sein Volk.
Zum Beweis seiner Königswürde, seiner Berechtigung zu herrschen und als gutes Vorzeichen für den Überfluss, den Aztlan ernten würde, trug angeblich auch die Himmelskönigin ein Kind. Jede Nacht vermählten sich die beiden, und jeden Tag wurde sie vom Palast zu dem weitläufigen Tempel der Schlangengöttin getragen, damit die Kela-Tenata sie untersuchen konnten. Auch wenn ihre Taille immer noch schlank war, wurde unter den Bürgern spekuliert, dass ihre Brüste inzwischen schwerer geworden seien und sie kein Korsett mehr trüge.
Hatte je zuvor ein derart mächtiger, strahlender Regent über Aztlan geherrscht? Er war genau so, wie ein Herrscher sein sollte - fruchtbar, klug, gut aussehend, stark, unnahbar.
Sein Volk hätte alles für ihn getan; Phoebus war ein Gott.
Niko schlug die Tür zu, und Neotne sah auf. Er schickte sie mit einem Fingerschnippen fort und trat an seine Truhe, wo er die Steine versteckt hatte. Phoebus machte Schwierigkeiten, er weigerte sich zu glauben, dass der Friede bald enden würde.
Die Steine hatten gesprochen, allerdings zögerte Niko noch, ihre Prophezeiung weiterzugeben. Die Steine waren sein Geheimnis.
Neue Gefahr drohte. Niko war geübt darin, die Anzeichen eines drohenden Vulkanausbruchs zu erkennen. Die Priester hatten ihn vertraulich von dem wieder giftig gewordenen Wasser, von den rastlosen Schlangen in Kenntnis gesetzt.
Mit zittrigen Händen holte Niko den schwarzen und den weißen Stein heraus und warf sie, damit sie ihm schlichte Fragen beantworteten, während er Mut sammelte für die schwierigen. Anhand der von ihm erstellten Tabelle überprüfte er, wie viel er von ihrer Sprache verstand. Die Buchstaben waren verwirrend, und ein einziges falsch gelesenes Zeichen konnte die Bedeutung eines ganzen Wortes, eines ganzen Satzes verändern.
Phoebus hatte Irmentis nicht mehr erwähnt und auch nicht mehr nach ihr gefragt. Er musste wissen, dass man sie ins Labyrinth geworfen hatte. Er kümmerte sich nur noch um Eume-los.
Ein Kind.
Er überließ es Niko, die Fragen der Bürger zu beantworten, während er selbst nur lächelnd und winkend durch den Tag schritt. Die Angehörigen seiner Sippe ließen sich blenden, allein Niko wusste, dass der Goldene Stier seine Energie und seinen Willen verloren hatte. Phoebus sprach nie mit seinem alten Freund, er lächelte nur. Es war, als wäre Phoebus gestorben; nur das Zusammensein mit Eumelos schien ihn davon abzuhalten, sich niederzulegen und auf die Insel der Gesegneten überzusetzen.
Es war deutlich, dass Niko ihm gleichgültig geworden war. Diese Erkenntnis traf Niko bis ins Mark: Erst hatte ihn Spiralenmeister betrogen, nun ließ auch Phoebus ihn allein. Wenn Niko nur seine Liebe, seine Freundschaft, seine alte fröhliche Kameradschaft zurückgewinnen könnte, dann würde er die Götter nie wieder um etwas bitten.
Er befragte die Steine.
»Wird die Skolomantie überleben?«
»I-H-R-W-E-S-E-N.«
»Wann wird der Berg ausbrechen?«
»I-N-D-E-R-Z-E-I-T-D-E-S-L-Ö-W-E-N.«
»An welchem Tag?«
Niko hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und drehte sich blitzschnell um. Niemand stand hinter ihm; seine Angst, seine Einbildung hatte ihm wohl einen Streich gespielt. Er schlug die Steine in Stoff ein und schnippte nach einem Tragsessel. Er musste mit dem Rat sprechen.
Aztlan würde sterben.
Das Mädchen wartete, bis ihr Beschützer in seinem Sessel weggebracht worden war. Dann schlich sie in seine Kammer und suchte nach seinem Versteck. Diese Steine sprachen zu ihm; sie konnte die Antworten an seinen blassen, brennenden Augen und seinem geröteten Gesicht ablesen.
Neotne wollte ebenfalls Antworten.
Die Zähne wie immer gegen den Schmerz ihrer fehlenden Hand zusammengebissen, setzte Neotne den verstümmelten Arm als Stütze
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