Die Seherin von Knossos
von riesigen Füßen.
Grâce à Dieu!
Gerade als Chloe den Refrain von »Stand by Your Man« anstimmen wollte, hörte sie eine Stimme in der Dunkelheit. Auch wenn sich der Akzent, sogar die Sprache verändert hatte, war die Stimme gleich geblieben. Es war eine flehende, entsetzte Stimme, weil für ihren Besitzer die Welt zerstört war, sie war in sich zusammengebrochen, über seinem Kopf eingestürzt. Es war dieselbe Stimme, die ihr im Alten Ägypten nichts als Schwierigkeiten eingebracht hatte.
Eine Stimme, die um Hilfe flehte.
Die, um genau zu sein, Sibylla um Hilfe anflehte.
Bevor Chloe auch nur die Möglichkeit blieb, sich im wahrsten Sinn des Wortes tot zu stellen, fielen immer mehr Stimmen ein.
»Herrin Sibylla! Kela sei gelobt!«
»Ich habe gewusst, dass du Recht hast, Herrin, immer wieder habe ich es meinem Mann gesagt, aber er wollte einfach nicht auf mich hören ...«
»Hilf uns, Herrin! Bitte!«
Es waren Dutzende, und alle flehten um Hilfe. Immerhin hatte sie diese Katastrophe prophezeit. Feuer und Wasser o ja, ganz recht, das waren ihre Worte gewesen. Sie wollten fliehen;
doch es gab keinen Ausweg mehr.
Nun, außer einem einzigen.
Chloe blinzelte in die nachtschwarze Dunkelheit. Inzwischen kannte sie den Weg, wo lag also das Problem? Das Labyrinth war leicht zu lösen - sie hätte schon früher darauf kommen können. Daedalus hatte es konstruiert, und dieser Mann kannte nur ein einziges Symbol. Den griechischen Schlüssel. Sie hatte den Schlüssel in Knossos auf seinen Kleidern gesehen; außer einem Schlüssel trug er keinerlei Schmuck. Ganz offenkundig hatte sie nicht nachgedacht.
Ein griechischer Schlüssel in der Senkrechten, drei in der Waagrechten. Fertig war das Labyrinth. Würde das Boot darunter diese zusammengewürfelte Schar aufnehmen können?
Die Stimmen wurden lauter, dröhnten ihr in den Ohren, bettelten sie an. »Ich bringe euch fort«, versprach sie. »Doch es ist keine leichte Reise. Wir müssen dazu den Hades durchqueren.«
Schweigen.
Eine tapfere Stimme meldete sich zu Wort. »Mit deiner Hilfe werden wir es schaffen. Wenn wir hier bleiben, werden wir sterben.«
»Fliehen die Goldenen ebenfalls, Herrin?«
Keine Ahnung, dachte Chloe. Aber Cheftu wird auf gar keinen Fall zusammen mit Dion verschwinden, das kann ich euch versichern.
»Wenn wir loswollen, müssen wir das jetzt«, sagte sie.
Wie Erstklässler auf einem Schulausflug stellte Chloe die Überlebenden paarweise auf und verteilte während ihres Marsches durch den verlassenen Palast die an der Wand hängenden Fackeln. Unter der Anweisung, sich zu beeilen und leise zu sein, führte sie die Fliehenden die Treppen hinunter. Hoffentlich ist das Boot da. Hoffentlich passen alle rein! Sie hatte keine Lust, Rangunterschiede zu schaffen, indem sie entschied, wer hier bleiben musste und wer fliehen durfte.
Die ersten Klagen kamen, als sie tatsächlich vor dem Türsturz mit der Aufschrift »Hades« standen. Chloe wischte sich über die Stirn und marschierte weiter voran. Das Schlimmste kam gleich zu Anfang, jedenfalls für sie. Die Arme auf den Sims gestützt, mit den Füßen nach den dünnen Sprossen der Felsleiter tastend, hörte sie erst zu schwitzen auf, als ihre Zehen die Sprossen berührten und schließlich umklammerten.
Nachdem sie ein paar Stufen hinabgestiegen war, lockte sie die Ersten in den Tunnel hinunter und ließ sich dann weiter hinab, wo sie hörte, wie sich die anderen oben miteinander unterhielten. Sehr gut, sie arbeiteten zusammen! Sie passierten die erste und dann die zweite Ebene. Chloe streckte den Kopf in den waagrechten Gang und schnüffelte: Hier waren sie falsch. Noch weiter runter. Jetzt war ihre Spur nur zu gut erkennbar.
Sie würde ihnen nichts von dem Schacht sagen. Sie würde sich einfach hineinfallen lassen, dann würden sie ihr schon nachfolgen.
Doch unter dem Gestank ihrer Ausscheidungen, ihrer Fak-keln und der alles überlagernden schwefligen Fäulnis fiel ihr noch ein weiterer Geruch auf. Ein salzigfeuchter Geruch. Sie näherten sich dem Schacht, wo Chloe sich umdrehte und den anderen befahl, ihr zu folgen, sie wisse schon, was sie tue. Wie gute kleine Rekruten schüttelten alle zustimmend den Kopf. Chloe sprang in den Schacht und zog die Knie an die Brust, in dem Versuch, ihr Rutschtempo zu kontrollieren.
Auf halbem Wege klatschte Wasser über ihrem Kopf zusammen, das ihre Fackel auslöschte und ihr den Atem nahm.
Oje.
Atenis stieß auf Cheftu und Nestor, die immer noch den
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