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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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Nestor ihn dann hergebracht? Damit er ihm beim Sterben zuschauen konnte?
    »Du wolltest ihn bei dir haben. Niemand sollte allein sterben, Dion. Niemand«, sagte Nestor leise. Er begann Nikos Gesicht und Schultern zu waschen, um ihn für die Inseln der Gesegneten vorzubereiten.
    Kopfschüttelnd sah Dion wieder auf Cheftu. Er würde nicht allein sterben. Sibylla war zusammengebrochen, darum hatte man sie nach draußen zu den Leichen gelegt. Es war ihm eine winzige Genugtuung, Cheftu ganz für sich allein zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit.
    »Aeeeh ... Aeeeaaah ...« »Er versucht zu sprechen«, sagte Nestor.
    »Bringt ihm Wasser!«, brüllte Dion.
    »Und ein Rohr!«
    »Ein Rohr?«, fragte Dion, dann sah er zu, wie Nestor die aufgeregten Laute entschlüsselte, die sich diesem Etwas namens Niko entrangen. Ganz langsam schwebten Nestors Hände über Nikos gesamten Leib abwärts.
    Über Nikos Geschlecht, das erstaunlicherweise die wenigsten Schäden davongetragen hatte, hielt er inne.
    Der Leibeigene kehrte zurück, woraufhin Nestor ihm das Wasser und das Röhrchen abnahm, durch das Röhrchen Wasser aufsog und dann das andere Ende in die Höhle schob, die Niko statt eines Mundes geblieben war. Tröpfchenweise ließ Nestor die Flüssigkeit in Nikos Hals rinnen. Das Bild ließ Tränen in Dions Augen treten.
    »Der Beutel.«
    Nestor suchte erneut, Nikos gekrächztem Wunsch entsprechend. Dann schob Nestor die Hände in die Tasche und holte einen flachen schwarzen Stein heraus, der dank seiner länglichen Form genau in seine Handfläche passte.
    »Uuurrrrmm.«
    »Was?«
    »Uurrmm.«
    »Versuch es mit der anderen Tasche, Dion.«
    Mit plötzlich zittrigen Händen tastete Dion in der zweiten Tasche in Nikos Schurz herum. Seine Finger schlossen sich um einen Stein, den er herauszog. Genau wie der andere war er länglich geformt und passte in seine Handfläche. Doch dieser hier war von schaumigem Weiß und glänzte beinahe wie Perlmutt. Er hielt ihn hoch.
    »Thhhhhmn«, keuchte Niko. Seine veilchenblauen Augen waren weit und aufgeregt aufgerissen. »Urrmm thhhmm urmm thmmnn«, wiederholte er, bis er würgen musste. Sie wälzten ihn auf die Seite, um seine Kehle frei zu bekommen. Nun ging sein Atem noch schwerer. Dion hörte, wie Niko um Atem rang und sein qualvolles Keuchen dabei zuzunehmen schien. Aus seinen Augen rannen blicklose Tränen, doch sie flehten nicht, sie bettelten nicht um sein Leben. Hektisch badete Nestor seine Beine und seine Brust, ehe er ihm Kalo taxidi wünschte.
    Ein langes Zischen kennzeichnete seinen Tod. Nestor schob erneut die Hand in Nikos Beutel und holte ein Fläschchen heraus. »Das Elixier.« Behutsam breitete Nestor ein Leintuch über das Gesicht des Magiers, dann befahl er mit einer Geste, den Leichnam hinauszubringen.
    Die rhytonförmige Glasphiole war das Ziel des gesamten Unterfangens. Die einzige Möglichkeit, ewig zu leben. Dion riss sie Nestor aus der Hand und lief, den Korken ziehend, zu Cheftu. Dann goss er die Flüssigkeit über die Wunden des Mannes.
    »Nein, Dion!« Nestor packte seine Hand. »Denk nach, Bruder. Hast du das Recht, in sein Leben einzugreifen?«
    »Wenn ich nichts unternehme, wird er sterben!«
    »Wenn du ihm dieses Elixier gibst, wird er möglicherweise blind und verkrüppelt überleben! Hast du das Recht, sein Schicksal zu entscheiden? Aztlan liegt in Trümmern, weil wir uns für Götter hielten. Wir haben geglaubt, wir könnten über das Leben der Menschen bestimmen. Spiralenmeister hat sich geirrt, wir sind keine Götter. Mach diesen Mann nicht athanati, Dion. Bereite ihn auf die Ewigkeit vor und lass ihm seinen Frieden.«
    Dion merkte, wie sich in seiner Kehle Tränen sammelten. Seine Brust zog sich unter Schmerzen zusammen, die Hände sanken ihm herab. »Ich liebe ihn«, krächzte Dion. Nestor zog ihn an seine Brust, wobei er zwischen Dion und Cheftu zu stehen kam.
    Tränen und Schleim verschmierten die Brust des Goldenen, so schluchzte Dion, in unregelmäßigen, schmerzlichen Atemzügen, bis Nestor ihn noch fester an seinen Leib drückte. Hinter Nestors Rücken hielt Dion das entkorkte Fläschchen in der
    Hand. Vorsichtig schob er den Finger von der Öffnung und goss den Inhalt in Cheftus reglosen, offenen Mund.
    Das Fläschchen über Cheftus Leib haltend, drückte Dion Nestor noch fester, um über seine Schulter blicken zu können. Cheftus Lippen glänzten feucht und Dion spürte ein unbeschreibliches Entzücken.
    Er hatte das Recht dazu, weil er Cheftu liebte.

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