Die Seherin von Knossos
großen Fußstapfen durch die Asche zu folgen versuchten. Sie hatten die Spur nach kurzer Zeit wieder verloren und suchten nun in größer werdenden Kreisen danach. Atenis erklärte ihnen, dass Dion sie beide sehen müsse, es sei äußerst dringend. Cheftu versuchte sich zu weigern, doch sie widersprach, sie brauchten einen Arzt. Ihre grauen Augen flehten ihn an, bis Cheftu sich widerstrebend fügte.
Sie folgten ihr durch die Gemächer des Spiralenmeisters bis ins Laboratorium. Noch bevor sie die Tür erreicht hatten, warnte ein ekelerregender Geruch sie vor der Verwesung, die sie dahinter erwartete. Atenis öffnete die Tür, trat beiseite und ließ ihnen den Vortritt.
Die Hand vor die Nase gepresst, besah sich Cheftu den Raum. Es stank widerlich; alles war mit braunen Flecken bedeckt. Phoebus’ Überreste lagen in der Mitte des Raumes, und winzige weiße Insekten krabbelten darauf herum. Cheftu wandte den Blick ab und sah zu Dion hin.
Sowie Nestor den toten Goldenen erblickte, verschwand auch das letzte bisschen Jungenhaftigkeit aus seinem Antlitz. Mit versteinerten Augen betrachtete er seinen gemeuchelten Sippenbruder ... und die weiblichen Fußabdrücke, die nicht gänzlich verwischt worden waren.
Ileana hatte Hreesos umgebracht. Hatte sie auch Niko verbrannt? Wie war er im Meer gelandet? Die beiden Männer waren zur selben Zeit verschwunden.
»Nehmt die Muttergöttin gefangen«, befahl Dion den wenigen noch lebenden Seesoldaten. »Bringt sie auf der Stelle zu mir.«
»Danach entlasst ihr Irmentis aus dem Labyrinth«, ergänzte Atenis, »und bringt sie ins Megaron.«
Cheftu schluckte seinen Ekel vor dieser Verwesung hinunter und beugte sich über den Leichnam des Königs. Er lag in einem Kranz von Glasscherben und aus seinem Bauch ragte der Hals eines Kruges heraus. Seine Kehle war von einem langen Glassplitter durchstochen.
Offenbar konnte bei so schwer wiegenden Verletzungen nicht einmal das Unsterblichkeitselixier den Tod verhindern. Nur selten hatte Cheftu so viel Blut gesehen.
Was für eine Frau würde ihrem Stiefsohn so etwas antun? Ihrem Gemahl?
»Niko hat hier gelegen, würde ich meinen«, sagte Dion auf der anderen Seite des Raumes.
»Wie kommst du darauf?«
Mit der Fingerspitze berührte Dion einen am Boden klebenden Bausch weißblonder Haare. Cheftu war schlecht und schwindlig, als er Ileana im Gang hörte. Nestors Blick wurde hart und Cheftu wie auch Dion richteten sich auf. Atenis trat zurück ins Dunkel.
Ileana betrat am Arm des Seesoldaten den Raum. Er konnte es kaum glauben: Trotz der Zerstörungen im Palast war die Himmelskönigin perfekt frisiert. Cheftu musste an seine Frau denken, auf deren Haut Schweiß, Blut oder Vulkanasche verklebten; trotzdem leuchtete ihr Geist, die Schönheit ihres Herzens aus ihr.
Er spuckte Ileana vor die Füße.
Als sie ihre pfauengrünen Augen auf ihn richtete, wurde es totenstill im Raum. »Ausländer, nimm diese Beleidigung zurück oder mach dich auf das Labyrinth gefasst.«
»Wie töricht von dir, Drohungen in eben jenem Raum auszustoßen, in dem dein Opfer liegt«, sagte Nestor. Er trat von Phoebus weg und erst jetzt fiel ihr Blick auf den verrottenden Leichnam. Im Gegensatz zu den Übrigen lief sie nicht grün an, ihr wurde weder übel noch fiel sie in Ohnmacht. Sie starrte voller Abscheu auf die Leiche und sah dann wieder weg.
»Leugnest du etwa, dass du ihn ermordet hast?«
»Er war athanati, das hat er selbst verkündet. Wie hätte ich oder irgendwer sonst einen Gott töten können?«
»Vielleicht mit dem Hals eines zerbrochenen Kruges, Ileana?«, fragte Cheftu. »Das Elixier verlieh Phoebus Unsterblichkeit, so lange er noch Blut im Leib hatte. Als er zum ersten Mal verwundet wurde, lieh Irmentis ihm ihres. Als du ihn angegriffen hast, ist er verblutet.« »Diese Sache geht dich nichts an, Ausländer.«
Dion trat vor. Zum ersten Mal zeigte Ileana Angst, wenn auch nur durch leichte Anspannung um Augen und Mund. »Hast du es nicht geschafft, schwanger zu werden, Ileana?«
»Ich bin es bereits, du Narr«, beschied sie ihm hoheitsvoll. »Der Thron war mir von Anfang an gewiss. Und wird es immer sein.«
»Aber nicht von Phoebus, Iii? Du hast Niko vergewaltigt -ihm die Psyche und den Samen gestohlen.«
Sie lachte. »Im Gegensatz zu dir, Dion, muss ich die Männer nicht in mein Bett locken.«
Er versetzte ihr eine Ohrfeige und Cheftu spürte, wie seine Wangen rot anliefen. Sie hatte eine Strafe verdient, aber würde er tatenlos zuschauen
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