Die Seherin von Knossos
zu begraben, haben sie es sich einverleibt.«
»Im eigentlichen Wortsinne?«
»Genau.«
»Sie haben sein Gehirn gegessen?« Chloe kämpfte gegen ihre aufkommende Übelkeit an. Andere Kulturen, andere Sitten, ermahnte sie sich. »Weißt du, dass die Azteken das Herz ihrer Feinde gegessen haben, weil sie hofften, damit deren Tapferkeit zu verzehren? Ich frage mich, ob die aztlantische und die aztekische Zivilisation miteinander verwandt sind.« Die Pyramiden deuteten jedenfalls auf eine Verbindung hin, begriff sie unvermittelt, und das würde auch erklären, warum ihr das Azt-lantische Imperium anfangs wie eine mexikanische Ferienkolonie vorgekommen war.
»Also«, fuhr Cheftu fort, »war die Krankheit eine Folge des Kannibalismus. Ich weiß nicht wie, aber die Stiere waren ebenfalls infiziert. Sie hatten die gleichen Löcher im Gehirn.«
»Alle hätten sterben müssen? Über kurz oder lang hätten sie alle sterben müssen? Selbst du?«
»Genau. Dann bekamen einige von uns, vor allem Phoebus und ich, das Elixier.«
»Phoebus ist tot.«
»Ja, das Elixier braucht offenbar Blut, in dem es wirken kann.«
»Du wurdest geheilt«, flüsterte sie. Sie wischte etwas Asche vom Floß.
»Das Elixier selbst war nicht das Entscheidende. Es war das Zusammenwirken des Elixiers mit der Krankheit, das Phoebus wieder zum Leben erweckt hat. Irgendwie vermischten sich die Krankheit und das Elixier im Blut in einer Al-khem-Reaktion, die dazu führte ...«
»Also ...« Sie schluckte, denn ihr war komisch zu Mute.
Er war Cheftu, doch er war zugleich jemand ... etwas Neues.
»Bist du jetzt ... unsterblich?«
Cheftu lachte. »Phoebus ist gestorben und er hatte beides. Langlebigkeit, glaube ich, ist das höchste, was ich mir erhoffen kann. Ohne viel Blut wirkt es nicht. Aber es hilft beim Heilen.«
»Hast du jemanden gegessen?«, fragte sie misstrauisch.
Cheftu starrte sie sprachlos an, bis Chloe rot wurde. Sie musste mit sich ringen, um nicht wieder wegzurutschen. Das war Cheftu!
Ihr Mann! Ihr Geliebter! Doch er kam ihr geradezu gespenstisch lebendig vor, vor allem in dieser surrealistischen Umgebung. Sie hatte ihn blutüberströmt gesehen. Und jetzt war alles wieder heil? »Was nun?«, fragte sie heiser.
Cheftu streckte die Hand nach ihr aus und kehrte ihre Handfläche nach oben. »Ich habe die Steine.«
»Was für Steine? Was redest du da? Hast du mir überhaupt irgendwas verraten? Hast du mir auch nur einen einzigen Gedanken anvertraut?« Chloe verschränkte die Arme vor der Brust.
»Chérie, gräm dich nicht ...« »Du hast mir nicht vertraut, Cheftu. Du hast mir einfach alles verheimlicht!«
»Das mit dem Kannibalismus habe ich erst ganz zum Schluss begriffen.«
»Wann hast du erfahren, dass du unheilbar krank bist? Wolltest du mir das irgendwann mitteilen, oder hättest du mich einfach neben deiner kalten Leiche aufwachen lassen?«
Cheftu besaß immerhin den Anstand, den Kopf einzuziehen. »Ich wollte dir nicht ...«
»Die Wahl lassen? Du wolltest mich nicht selbst entscheiden lassen?«
»Chloe .«
»Ich bin keine verhuschte Adlige aus dem neunzehnten Jahrhundert, Cheftu! Ich bin die Frau an deiner Seite, deine Partnerin, ich dachte, ich sei deine Freundin ...«
»Chérie, Chloe, verzeih mir.« Immer noch hatte er die Hand nach ihr ausgestreckt. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wirst du bei mir bleiben?«
Sie wandte den Kopf ab. Ihre Seele schmerzte genauso wie ihr Körper. Er hatte ihr so vieles verschwiegen, er hatte ihr nicht genug vertraut, um sich ihr zu öffnen. Was verband sie denn, wenn er ihr nicht erzählen konnte, was ihn bedrückte? Das Floß hörte auf zu treiben, die reglose Luft lud sich mit Spannung auf. In Chloes Nacken stellten sich die Härchen auf. Cheftu sah sie ernst im Halbdunkel an.
Mit einem Schlag wurde es schwarz um sie herum. Ein unvermittelter, knochenerschütternder Donner explodierte in ihrem Schädel. Chloe schrie auf, so plötzlich änderte sich der Luftdruck.
Der gehirnerschütternde Schlag fegte sie nieder wie eine Lumpenpuppe.
23. KAPITEL
Der ausbrechende Vulkan bombardierte sie mit Feuer und Lava. Chloe und Cheftu lagen auf dem Floß, wie wild unter den fliegenden Felsbrocken wegpaddelnd. Dass sie so nahe an dem Vulkan waren, hatten sie nicht gewusst.
Nur wenige Wimpernschläge später wechselten sie sich dabei ab, zu paddeln oder die heiße Asche vom Floß zu treten. Das Zeug verklebte alles, es reizte die Haut, verstopfte Augen, Ohren, Nase, Mund. Cheftu
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