Die Seherin von Knossos
ausgelegt - Fische, Krebse und Oktopus. Frisches Gemüse und frisches Obst aus der Sippe des Rebstocks sowie gewürztes Fleisch aus der Sippe des Horns waren liebevoll in Körben arrangiert.
Die Erde bebte erneut, und Neotne musste sich an einem Tisch festhalten. Sie sah, wie ein Granatapfel zu Boden fiel, beim Aufschlag zerplatzte und seine blutroten Samen über den ganzen Boden spritzten. Bitte, Kela, lass das kein Omen sein! Das Beben nahm kein Ende, inzwischen brachen auch Stücke der weiß gekalkten Decke herunter. Neotne hob den Arm, um sich zu schützen. Unter dem Brüllen des Erdrüttlers hörte sie Menschen schreien. Sie versuchte aufzusehen, doch weißer Staub hing wie Nebel im Raum. Neben einer Säule kauernd, spürte sie, wie sich direkt unter ihrer Hand ein Spalt auftat. Die Säule würde umstürzen. Und sie dabei zerquetschen!
Gebückt und fallenden Deckenstücken ausweichend, rannte Neotne in Richtung Ausgang. Die Tempelstufen waren in der Mitte durchgebrochen; so schlimm hatte es der Erdrüttler noch nie getrieben.
Ein brennendes Pulver fiel vom Himmel, das ihr Gesicht und ihre nackten Brüste versengte. Die Luft stank zum Ersticken nach Schwefel, und die Menschen rasten in Panik durch die Straßen auf den Hafen zu. Neotne geriet in die Menge und wurde mitgezogen. Sela, dachte sie, wo war Sela? Ihre Sippenschwester trug so schwer an ihrem Kind, dass sie sich kaum rühren konnte.
Die Menschen schubsten sie von hinten, und Neotne schubste die Menschen vor ihr. Was sie zuerst für Pulver gehalten hatte, waren winzig kleine, heiße, stechende Kügelchen, die vom
Himmel herabfielen. Neotne konnte sich nicht umdrehen, konnte sich nicht aus der Menge lösen. Überall sah sie Gebäude einstürzen und in Flammen aufgehen. Bunte Fresken-Stücke lagen zersplittert auf dem Boden, schon halb verschüttet unter dem Grau. Das Haus eines Webers war in sich zusammengebrochen, nur der Stoff hing noch rot wie ein Blutfleck auf dem Webstuhl.
Was ging hier vor?
Der Krach traf sie wie ein Schlag, und Neotne stürzte zu Boden, über und unter den anderen Flüchtenden purzelnd. Sie spürte, wie der Boden zitterte, als wollte er ein Kind gebären, und krabbelte in Todesangst davon.
Durch ihre Angst zu ungeahnten Kräften getrieben, kämpfte sie sich aus der Menge und stand auf. Sie waren am Hafen, nur war das Meer verschwunden! Schiffe und Boote saßen im Sand auf Grund. Hinter ihr schien sich ein Riss aufzutun, mit ohrenbetäubendem Lärm, der sie auf die Knie warf. Neotne drehte sich um und sah Feuer aus Apis’ Nüstern schießen.
Der Stier brüllte!
Nur wenige standen noch aufrecht. Die Gebäude waren eingestürzt, und auf dem schlammigen Meeresgrund lagen die Leichen wie Haufen von trocknendem Leinen. Sie sah rote, grüne, orange Streifen in den Himmel schießen. Blitze zuckten durch die sich senkende Dunkelheit, und Neotne begriff, dass Arachne zum Untergang verurteilt war. Sela, wie konnte sie zu Sela gelangen?
Sie drehte sich zum Meer um. Wo waren die Wellen? Gab es denn gar kein Entkommen? Ein tiefes Summen wie von Millionen Bienenschwärmen wurde immer lauter, kam immer näher. Der Berg Kalliope begann zu bluten, während aus der Nüster roter und schwarzer Rauch qualmte. Das Blut kam schnell näher, deshalb sprang Neotne vom Pier hinunter in den feuchten Sand. Ein winziges Boot lag gekippt auf der Seite, im Sand gestrandet, doch so klein, dass sie es allein schieben konnte.
Neotne packte es an der Reling, und es bewegte sich.
Ein wenig.
Das Blut hatte die Randbezirke von Arachne erreicht. Die kostbaren Häuser der Adligen hoch über der Klippe wurden in einem Augenzwinkern überrollt. Neotne lief vor das Boot und zog. Es bewegte sich ein wenig mehr.
Überall irrten die Menschen schreiend und rennend umher, doch Neotne hatte das Gefühl, als müsste sie sich ganz allein dem Zorn des Stieres stellen. Was hatten sie nur getan, dass Apis sie vernichten wollte? Das Boot rutschte weiter vorwärts. Neotne packte das Ankerseil, schlang es um ihr Handgelenk, um mehr Kraft beim Ziehen zu haben, und warf das Ankerende zurück ins Boot.
Menschliche Schreie zerfetzten die Luft, und Neotne rannte los, Apis’ glühenden Atem im Rücken. Das Boot schleifte inzwischen hinter ihr her, doch der Sand wurde immer nasser und bot dem Fuß immer weniger Halt. Um sie herum lagen gestrandete Seepolypen und tote Fische. Der Himmel wurde ständig dunkler, und die fallende Asche schien sie am ganzen Leib zu versengen.
Hinter
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