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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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ist es bis heute geblieben, Phoebus.«
    Phoebus fuhr fort, Öl ins Leder zu massieren. Endlich wurde am rechten Rand der Seite eine Linie sichtbar. Als das Öl auf-gesogen war, blieben nur die tiefsten Einkerbungen ungeglät-tet. Er schlug die nächste Seite auf, goss neues Öl darauf und wischte den schmierigen Belag ab. Hier gab es wesentlich mehr Einkerbungen, allerdings keine Buchstaben.
    »Erzähl weiter.«
    »Nach der Zerstörung wurde das Volk unterworfen und vermischte sich mit den Eindringlingen. Ein Bürgerkrieg folgte. Damals entstand der Rat. Die Menschen flohen vor den Entscheidungen, den Gesetzen des Rates.
    In unseren Geschichtsstunden lernen wir, dass die Kolonisten Aztlan verließen, um neue Außenposten zu errichten. Diesem Dokument zufolge waren es keine Kolonisten. Phoebus, hier steht, es seien Gesetzlose gewesen.«
    Der Aufsteigende Goldene hielt inne, lauschte den Worten seines Freundes nach und verglich sie mit den Legenden, mit denen sie aufgewachsen waren. »Man hat uns erzählt, es seien Kolonisten gewesen, die nach Norden, Süden, Osten und Westen ausgewandert seien. Sie haben uns die Geheimnisse der zwei Erntezeiten, des Steinformens und der Gezeiten gebracht.« Phoebus blickte auf. »Wovor sollten sie fliehen?«
    »Sie wollten nicht hinnehmen, dass der Rat auch über die Familien herrschen sollte. Sie wollten, dass ihre Blutsverwandten bei ihnen blieben. Sie wollten sich nicht zu Sippen zusammenschließen.«
    »Dabei ist Aztlan nur so groß geworden, weil es in Sippen aufgegliedert ist«, sagte Phoebus und befingerte dabei das Goldmedaillon um seinen Hals. »Auf diese Weise sind Gleichheit und Gleichgewicht unter allen Bürgern garantiert. Dadurch bleibt die Wirtschaft stabil. Die Ehen sind kräftig, die Kinder ebenso, denn sie sind von unterschiedlichem Blut.« Er zuckte mit den Achseln. »Wieso sollte sich jemand dagegen auflehnen? Wir genießen Frieden und Überfluss. Die Sippen sind Aztlan.« Er betrachtete Niko schweigend. »Was ist, mein Freund?«, flüsterte er schließlich. »Deine Gedanken sind wie
    Rauch in der Luft.«
    »Spiralenmeister will diese Steine haben.«
    »Was für Steine?«
    »Die Steine, durch die unsere Urahnen Gehör bei diesem Gott fanden.«
    Phoebus sah auf. »Er glaubt diese Geschichten?«
    »Offenbar gingen die Steine mit diesem Jawan, dem Patriarchen, verloren. Er ist auf einer kleinen Insel gestorben. Einige der Gefolgsleute dieses Gottes folgten ihm dorthin und bauten ihm ein Grab. Die Steine ihres Gottes haben sie dort gelassen.«
    »Aber niemand weiß, wo sie sind, und niemand hat sie seither verwendet?«
    Er nickte verneinend. »Ich glaube allerdings, Spiralenmeister macht sich vergebliche Hoffnungen. Ich habe alle Aufzeichnungen durchgesehen. Es ist keine einzige Karte darunter.«
    Phoebus faltete die nächste Seite seiner Tafel auf. Ungeduldig rieb er das Öl in das brüchige Leder, dann hielt er inne. Endlich ein paar Buchstaben. Buchstaben, die eine Insel in einem riesigen Meer kennzeichneten. »Du hast gesagt, das hier wären die beiden letzten Tafeln? Was ist auf deiner?«
    Niko nahm das ölglatte Leder auf. »Rezepte für Geburten.«
    Phoebus verzog das Gesicht. »Was bekäme ich als Belohnung, wenn ich deine Tafel finden würde?«
    »Eine Nacht mit einer rothaarigen Tempeltänzerin.«
    Niko sprang über einen Stapel von Papyrus und Leder und kauerte neben Phoebus nieder.
    Phoebus reichte ihm die Tafel.
    »Sehr gut. Du zahlst die Tänzerin. Das ist die Karte!«
    Ein Licht leuchtete in Phoebus’ Augenwinkel, und er zog eine Grimasse. »War sie meinen mageren, schwer verdienten Lohn wert?«, erkundigte sich Niko.
    »Och! Bei den Hörnern Apis’, was tust du hier?«, stöhnte Phoebus und wälzte sich auf den Bauch.
    Niko ließ sich auf der Liege nieder. »Spiralenmeister hat be-schlossen, mich loszuschicken«, sagte er.
    Phoebus blieb, den Kopf unter einem Kissen begraben, reglos liegen. »Wohin zu schicken?«, fragte er, als die Worte endlich zu ihm durchgedrungen waren.
    »Dion wollte gehen, doch Spiralenmeister hat ihn überzeugt, dass er mehr Fortschritte mit seinem Flugsegelgerät machen kann, wenn er seine gesamte Zeit darauf verwendet.«
    Der Aufsteigende Goldene setzte sich auf und zog das Leinen hoch. Niko saß am Fuß des Bettes, die veilchenblauen Augen mit Bleiglanz ummalt, das weiße Haar geflochten und festgesteckt.
    »Hab’ ich etwa ein Fest verschlafen?«, fragte Phoebus.
    »Genau«, bestätigte Niko. »Spiralenmeister möchte,

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