Die Sehnsucht der Falter
die sie mit den Händen hochschob. Ihre Brustwarzen waren blassrosa, sie verschmolzen mit der weißen Haut, die sie umgab. Um jede Brustwarze wuchsen drei oder vier lange, schwarze Haare. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Du hast schöne Brüste«, sagte ich. »Wirklich schön. Wen stören da schon ein paar Haare?«
Sofia lachte. Sie lacht immer über sich selbst, sobald sie zu weinen aufgehört hat. Sie macht ständig irgendwelche bizarren Diäten, isst zum Beispiel zwei Pflaumen und eine getrocknete Feige vor jeder Mahlzeit. Sie weiß, dass es albern ist, kommt aber nicht dagegen an. Nächste Woche wird sie beim Frühstück wieder Zimtbrötchen und Haferflocken essen. Sie kann nicht abnehmen. Ich weiß nicht, weshalb sie es überhaupt versucht.
Irgendwie mag ich Sofia mehr als alle anderen hier. Mich stört nur, dass sie immer so schnell die dummen Sachen glaubt, die ihr andere Leute, die angeblich wissen, wovon sie reden, erzählen – ob es nun um Sex oder den Sinn des Lebens geht. Gestern beim Frühstück hörte ich Sofia am anderen Ende des Tisches sagen: »Daher gibt es keinen Grund, weiterzuleben. Das Leben ist sinnlos. Nichts hat irgendeine Bedeutung. Warum überhaupt leben, wenn wir letztlich doch nur sterben?«
Da ist etwas Wahres dran.
Während sie das sagte, hielt sie die ganze Zeit einen Donut in der Hand, bereit, hineinzubeißen. Wieder mal Dora. Sie hat Camus und Sartre gelesen und Sofia einen Haufen Mist über den Existenzialismus und den Sinn des Lebens eingetrichtert. Besser gesagt, über den fehlenden Sinn des Lebens. Sofia liest die Bücher nicht selbst. Sie hört sich nur an, was Dora erzählt, und wird noch deprimierter, als sie wegen der Scheidung ihrer Eltern ohnehin schon ist. Das nämlich bedrückt sie – und keine abstrakte Philosophie. Wen interessiert schon, was Nietzsche sagt, solange es einem gut geht? Alle am Tisch lachten los, als Sofia ihre Erklärung abgab. Ich auch.
Ich brüllte zu ihr hinüber: »Für Donuts lohnt es sich zu leben.«
Ein Zitat von Nietzsche, bevor ich Dora das Buch zurückgebe:
»Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange!«
Ich habe Dora satt.
24. September
Ich kam zehn Minuten zu spät vom Hockeytraining. Als ich die Treppe hinaufrannte, dachte ich, bei meinem Glück wird Mrs. Halton uns ausgerechnet heute Nachmittag kontrollieren, dann müssen wir nachsitzen und dürfen dieses Wochenende nicht in Chinatown essen gehen. Ich kam um die Ecke in den Flur und sah jemanden ins Zimmer gegenüber schlüpfen. Natürlich hätte jede einen langen, blauen Rock und eine weiße, aus dem Rockbund hängende Bluse tragen können, doch ich wusste, es war Lucy. Als ich hinkam, war die Tür zu Ernessas Zimmer zu. Sie sah aus wie ein riesiges, leeres Auge.
Ich hatte Recht. Lucy war nicht in ihrem Zimmer. Worüber reden die beiden? Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich etwas zu sagen haben.
25. September
Gestern hat Sofia etwas Seltsames getan. Sie ging zu Miss Rood, um mit ihr über ihre Angst und Hoffnungslosigkeit zu sprechen. Miss Rood ist nicht gerade der Mensch, dem ich mich anvertrauen würde. Sofia hingegen mag Miss Rood wirklich gern und spricht ständig mit ihr. Miss Rood ist nett zu Sofia, weil sie aus einer »guten« Familie stammt. Daher macht es fast nichts, dass ihr Vater Italiener ist. Diese Art von Ausländisch sein ist akzeptabel. Italien steht für Rom und die Renaissance und so weiter. Bei einer osteuropäischen Jüdin sieht es anders aus. Schließlich begann die westliche Zivilisation nicht an der Grenze zwischen Polen und Russland. Miss Rood toleriert uns, mehr nicht. Daraus macht sie kein Geheimnis.
Dora hat mir erzählt, Ernessa sei Jüdin. Damit sind wir drei, sozusagen. Ich bin mir sicher, dass Ernessas Vorfahren nicht aus einer verschwundenen Stadt mit unaussprechlichem Namen stammen. Vermutlich kamen sie aus Prag, Warschau oder Budapest. Dora gibt sich gern als Jüdin, obwohl ihre Mutter aus einer Bostoner Banker-Familie stammt und sie noch nie eine Synagoge von innen gesehen hat. Ihr jüdischer Vater ist Psychiater, und sie meint, jüdisch zu sein ließe sie intellektueller erscheinen. Ich bin immerhin vollkommen jüdisch. Meine Eltern wurden beide als Juden geboren.
Miss Rood hörte Sofia eine Stunde lang zu; dann schickte sie sie mit einem Buch weg. Es war Miss Roods eigene Ausgabe von Walter Paters Die Renaissance. Das weiß ich, weil ich den verblichenen grünen Deckel aufgeschlagen
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