Die Sehnsucht der Smaragdlilie
seine Schultern und unterbrach den Kuss. Aus Angst, Tilney könnte die heißen Tränen in ihren Augen sehen, wandte sie das Gesicht ab.
„Verzeiht mir, Madame“, sagte er heiser und ließ sie los. „Ich wollte nicht die Situation ausnutzen. Ihr seid nur so wunderschön …“
Marguerite zwang sich zu einem Lachen und machte eine wegwerfende Handbewegung, als könnte sie damit ihre Tränen und all ihre Angst verscheuchen. „Ach, Master Tilney, was bedeutet schon ein kleiner Kuss im Garten! Ihr beweist bei den Damen genauso viel Geschick wie als Höfling. Ihr müsst sehr beliebt sein.“
Er lachte. Als sie sich entschuldigte und zum Palast zurückging, war sie sich sicher, dass er geschmeichelt und nicht beleidigt war. Mit schwingenden Hüften entfernte sie sich langsam von ihm, bis sie außer Sicht war. Dann rannte sie, so schnell es ihre hochhackigen Schuhe und das enge Mieder erlaubten, rannte und rannte, bis sie das Flussufer erreicht hatte und nicht mehr weiter konnte.
Marguerite beugte sich über das graue Wasser. Sie fürchtete, krank zu sein. Eine kalte Übelkeit nistete in ihrem Magen, und sie schlang fest die Arme um ihren Bauch. Etwas hatte sich verändert, etwas Tiefes und sehr Beunruhigendes. Es hatte sich so schnell verändert, dass sie selbst es noch nicht einmal gemerkt hatte, bevor Roger Tilney sie küsste.
Ihre sorgsam errichtete Mauer aus Eis bekam Risse. Sie spürte, wie die Wand, die sie um ihr Herz und ihre Seele gebaut hatte, Stein für Stein zusammenbrach. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte, sie zu erneuern, die Risse zu kitten, sie brach weiterhin um sie herum zusammen.
Marguerite richtete sich auf und starrte auf das Wasser hinunter. Es floss dahin, unveränderlich, gleichgültig gegenüber menschlichen Ängsten und Leidenschaften. Was geschah mit ihr? Sie verstand es nicht. War es Nikolai? War es die seltsame Anziehungskraft, die er auf sie ausübte? Waren es seine verführerische Liebeskunst, seine Worte, seine Vision einer Zukunft voll Frieden und Wärme und von einem Leben in der Natur?
Einen Moment lang sah sie sich in den Fluss stürzen, in den kalten Wellen untertauchen und für immer verschwinden. Schon jetzt wogen ihre Sünden zu schwer.
Noch nie, nicht einmal nach dem Tod ihres Vaters, hatte sie sich derart einsam gefühlt.
Sie wandte sich vom Wasser ab und lief langsam zurück zum Palast und dem Leben, das sie dort erwartete. Es war alles, was sie hatte, alles, was sie kannte.
„Madame Dumas!“, hörte sie jemanden rufen. Als sie sich umdrehte, sah sie den Comte de Calonne auf sich zukommen, Pater Pierre im Schlepptau. Rasch wischte sie die Tränen fort und zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Was macht Ihr denn hier so ganz allein?“, fragte der Comte und hob zum galanten Gruß ihre Hand an die Lippen.
„Ich wollte nach dem Tennisspiel nur ein wenig frische Luft schnappen“, antwortete Marguerite und lächelte den Comte an. Anders als seine Frau machte er immer einen gut gelaunten Eindruck. Er widmete sich ganz seinen Pflichten Frankreich gegenüber, war aber auch einem Spaß nicht abgeneigt. Die haselnussbraunen Augen in seinem offenen, sommersprossigen Gesicht blitzten. „Eure Gattin ist mit Königin Katharina in den Palast zurückgekehrt.“
„ C’est bon ! Ich hoffe, Claudine gewöhnt sich an das Leben hier. Offenbar werden wir noch ein wenig länger bleiben.“
„Wirklich? Machen die Verhandlungen nicht die gewünschten Fortschritte?“, fragte Marguerite und versuchte zu ignorieren, dass Pater Pierre sie schweigend anstarrte.
„Sie gehen gut voran, doch König Henry scheint unsere Gesellschaft zu genießen und will uns nur ungern ziehen lassen. Er benutzt viele Ausreden, um uns hierzubehalten“, antwortete der Comte. „Und wie sollte er nicht? Wir sind Franzosen, n’est-ce pas ? Wir betreiben die unterhaltsamste Konversation, können am besten tanzen und nennen die schönsten Damen unser eigen.“
Marguerite lachte. „Ich habe unter den Engländern viele hübsche Damen entdeckt. Lady Penelope zum Beispiel und …“
„Und Madame Boleyn?“ Der Comte warf einen Blick über die Schulter und nickte Pater Pierre zu. Dann bot er Marguerite den Arm. „Pater Pierre und ich müssen die Barke nach London nehmen, bevor sich die Gezeiten gegen uns wenden, Madame Dumas, denn heute Abend müssen wir dort zu einem Treffen sein. Wollt Ihr mit uns zu den Treppen gehen?“
Marguerite nickte. Sie war für alles dankbar, was sie
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