Die Sehnsucht der Smaragdlilie
bekam keinen Ton heraus. Wie auch, wenn sie sich noch nicht einmal selbst erklären konnte, was in ihr vorging und wieso sie überhaupt hier war.
Sie flog auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn mit der ganzen Leidenschaft, zu der sie fähig war. Erstaunt öffnete er die Lippen. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.
Wie von Weitem hörte sie den Pinsel zu Boden fallen, fühlte Nikolais Umarmung, spürte, dass er sie genauso begehrte wie sie ihn. Im Gegensatz zu dem Kuss Roger Tilneys fühlte sich dieser hier richtig an. Beinahe glaubte sie, sie wären füreinander geschaffen.
Eine Flut lang zurückgehaltener Gefühle drohte, sie schier zu überwältigen, Gefühle, die sie nicht mehr würde zurückrufen, nicht mehr würde unterdrücken können. Sie schmiegte sich an Nikolai, als wäre es das letzte Mal – was es vielleicht auch war.
„Marguerite“, raunte Nikolai mit heiserer Stimme und löste sich von ihr. „Was ist los? Geht es dir gut?“
Sie legte den Kopf zurück und sah ihn an. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine kleine Falte gebildet. „Natürlich geht es mir gut. Ich sehnte mich nur nach einem Kuss. Ist das so schrecklich?“
„Schrecklich – nein, gar nicht. Meine Lippen stehen immer zu deiner Verfügung. Es kam nur so überraschend.“
Sie ließ den Kopf in der Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter ruhen und atmete tief seinen Duft ein. Endlich beruhigte sich ihr Herzschlag, das ungute Gefühl verschwand und ließ nur noch Wärme zurück.
Er zog sie fest an sich und streichelte ihr liebevoll über den Rücken. Sie lächelte und presste sich noch enger an ihn. Jetzt verstand sie, warum seine Freunde ihm so sehr vertrauten. Er strahlte Wärme und Fürsorglichkeit aus; er war wie ein warmes Feuer in einer kalten Winternacht. Das war so verlockend. Sie befürchtete, ohne dieses Feuer nicht überleben zu können.
„Was führst du im Schilde, Marguerite? Was für ein Spiel spielst du?“, fragte er leise. Ernst. Misstrauisch.
Ein winziger, eisiger Dolch durchbohrte ihr Herz. Sie kam zu ihm mit dem ersten wahren Gefühl, dass sie seit langen Jahren wieder empfand, und er glaubte, sie spielte ein Spiel. Aber sie konnte es ihm wirklich nicht übel nehmen. War nicht ihr ganzes Leben ein einziges Spiel? Hatte sie ihm nicht, seit sie sich kannten, etwas vorgemacht?
Trotzdem schmerzte es sie.
Sie ließ ihn los und wandte ihm den Rücken zu, um die salzigen Tränen fortzublinzeln, die ihr plötzlich in die Augen gestiegen waren. Tränen halfen nicht. Sie machten die Dinge nur noch schlimmer und das Gesicht fleckig und rot dazu. Sie lachte sorglos. „Nun, Monsieur, ein Kuss an sich ist doch schon ein Spiel!“
Sie machte einen Schritt auf das Schloss zu und tat so, als würde sie seine Türmchen und die kleine Zugbrücke inspizieren. „Was baust du da?“
Den Blick immer noch wachsam und vorsichtig auf sie gerichtet, trat er an ihre Seite. „Dein grünes Schloss natürlich. Für die Festvorstellung.“
„ Mein Schloss?“
„Wirst du nicht die Schönheit spielen, die Herrscherin über alles und jeden? Du wirst hier sitzen, umgeben von all deinen hübschen Damen.“ Er klopfte auf eine hohe Plattform, die hinter einem der Türmchen verborgen lag und über einige flache Stufen zu erreichen war.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte Marguerite bei alldem, was geschehen war, die Festvorstellung bereits wieder vergessen. „Wann werden wir mit den Proben beginnen?“
„In zwei oder drei Tagen, hoffe ich. Wenn die Farben erst einmal getrocknet sind, damit die Damen sich nicht ihre feinen Kleider ruinieren. Das Schloss ist fast fertig.“
„Und wirst du eine Rolle übernehmen? Vielleicht spielst du einen der Ritter, die die große Festung belagern?“
„Nein, ich kümmere mich nur darum, dass alles seine Ordnung hat“.
„Wie schade. Obwohl es dir vermutlich keine große Mühe bereiten würde, ein Schloss voller Damen zu erobern. Sie bräuchten dich nur zu sehen, und schon würden sie die Zugbrücke herunterlassen.“
Nikolai lachte, und der warme Klang brachte einige der eisigen Splitter in ihrem Herz zum Schmelzen. „Wenn das Schloss nicht fertig gebaut ist, wird gar nichts erobert werden.“
„Komm, ich helfe dir.“ Marguerite band ihre Samtärmel los und streifte sie ab, bevor sie nach einem Pinsel griff.
„Gibt es keine anderen Pflichten, denen du nachkommen musst?“
Sie lächelte ihn an und schwenkte dabei den Pinsel wie ein Schwert. „Es
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