Die siebte Gemeinde (German Edition)
Wahrscheinlich hatte sie ihn noch mehr aufgestachelt oder gar verärgert. Sie machte sich zunehmend mit dem Gedanken vertraut, beim nächsten Nachrichtenbombardement die Polizei anzurufen, wollte sie endlich ihre Ruhe haben.
Je mehr sie über diese Alternative nachdachte, desto skeptischer wurde sie. Sollte sie die Polizei verständigen, hätte das Ermittlungen im gesamten Haus zur Folge. Sämtliche Computer müssten untersucht werden, die Mitarbeiter wären beunruhigt, und allesamt würden Emma als Schuldige ansehen. Noch weniger wären die Mandanten erfreut, wenn sie erfahren würden, dass die Polizei in der Kanzlei gewesen wäre. Das Geschrei von Wolfgang Menner würde man mit Sicherheit bis zum Dom hinauf hören können.
»Das bedeutet«, murmelte Emma resigniert, »du würdest dir den Unmut aller Menschen zuziehen, die mit dir zu tun hätten - fristlose Kündigung nicht ausgeschlossen.« Kaum hatte sie den Gedanken vollendet, blinkte es auf ihrem Bildschirm. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper, gleichzeitig ballte sie die Fäuste. Sie wusste nicht, was sie sich eher wünschen sollte. Hätte sie lieber, dass ein Mandant betriebswirtschaftliche Zahlen von ihr verlangte oder dass Matteo es war, der geschrieben hatte? Die Hoffnung, dass es sich um eine Mandantenmail handeln könnte, musste sie sofort begraben. Wiederholt war es eine Nachricht von Matteo.
Drum komm geschwind an jenen Ort,
wo das Alter präsent ist, immerfort.
»Wie jetzt? Was?«, rief sie irritiert. »Warum denn dieselbe Scheiße wieder und wieder? Hier will mich doch jemand veräppeln.«
Emma legte ihren Kopf in den Nacken und dachte nach. Warum hatte sie ausgerechnet diesen letzten Satz noch einmal erhalten?
»Er will sich mit dir treffen«, entschied sie. »Doch wo? Und warum? Wann? Etwa jetzt?«
Sie tippelte mit ihrem Kugelschreiber auf der Tischplatte herum und kaute gleichzeitig an den Nägeln der anderen Hand. Ihre Gedanken flogen so schnell, dass sie sich selbst kaum folgen konnte. »Denk nach, Emma! Wo soll das Alter immerfort präsent sein? Auf dem Friedhof? Nein, da ist der Tod präsent. Wo befinden sich alte Menschen? Im Krankenhaus? In der Kirche? Im Altersheim? Ja, im Altersheim könnte sein. Aber welches? Da gibt es mindestens zwanzig Stück in Köln.«
Emma feuerte den Stift auf die Tischplatte und kramte die gelben Seiten aus ihrer Schublade. Hektisch blätterte sie in dem Branchenbuch herum.
»Altersheime …, Altersheime …«
Beim Suchen zwischen den Seiten des Buchstabens A blieb ihr Finger ruckartig stehen.
»Das ist es«, stieß sie hervor. »Natürlich!« Sie schlug sich gegen die Stirn. »Da hättest du auch früher drauf kommen können.« Emma sprang von ihrem Platz auf und lief aufgeregt vor ihrem Schreibtisch auf und ab. »Mensch, das lag doch direkt vor deiner Nase.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf die Kiste mit den Ordnern. »Antiquitäten, die sind alt. In einem Antiquitätenhandel ist das Alter immerfort präsent.«
In ihrer Magengrube begann es, heftig zu kribbeln. Zuletzt hatte sie eine solche Aufregung am Tag ihrer Steuerberaterprüfung verspürt.
Sollten die Seydels etwa …? Emma schüttelte den Kopf. Keinem der beiden traute sie eine derart merkwürdige Handlung zu. Robert Seydel sowie seinen Sohn Elias hatte sie als ehrbare Bürger kennengelernt. Nicht wie manche Möchtegern-Unternehmer, die sie zur Genüge in ihrer Mandantschaft hatte.
Kurzerhand nahm sie den Telefonhörer und wählte die Nummer des Seydel-Ladens. Sie wollte Gewissheit. Während es klingelte, blickte sie beiläufig an sich herab. Ihr Herzschlag war an ihrer Bluse zu erkennen. Erst nach dem sechsten Läuten hob endlich jemand ab, und schlagartig schnürte sich ihr Hals zu. Sie wusste überhaupt nicht, was sie eigentlich sagen sollte.
»Herr, äh, Herr Seydel?«, begann sie stotternd. »Robert Seydel?«
»Ja«, antwortete dieser. »Wer ist da?«
»Ja, guten Tag, Herr Seydel. Hier ist Emma Kemmerling von Carl, Menner & Schmitt. Ich, äh, ich hätte da noch ein paar Fragen bezüglich ihres Jahresabschlusses. Eine Zusammenstellung hatte ich bereits an ihren Sohn geschickt, und jetzt wird es mir langsam eilig, weil der Termin näher rückt.« Sie wagte sich einen Schritt voran. »Am besten, ich krame hier ein paar Sachen zusammen und komme bei Ihnen vorbei. Persönlich können wir das besser besprechen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Emma hielt den Atem an. In ihrem Kopf hörte es nicht auf
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