Die Silberdistel (German Edition)
ihren Haaren zogen oder sie mit Schimpfwörtern zu ärgern suchten, sobald sie es wagte, sich zu weit von ihrem fahrendenZuhause zu entfernen. So war Sureya jedesmal froh, wenn ihre Mutter das Zeichen für den Aufbruch gab und sich der Wagen in Bewegung setzte. Und keiner der Beteiligten wäre unglücklich gewesen, wenn das für alle Ewigkeit so geblieben wäre, Nerva am allerwenigsten.
Doch das Unglück braute sich unter ihrem eigenen Dach zusammen: Sureya war noch keine acht Jahre alt, als Nervas Kunden die überirdische Schönheit der Hurentochter bemerkten. Danach dauerte es nicht lange, bis die ersten nach Sureya fragten und gerne bereit gewesen wären, für deren junges Fleisch gut zu bezahlen. Doch davon wollte Nerva nichts hören. Nicht, weil sie ihre Tochter vor den brutalen Wünschen und Vorlieben der Männer, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte, bewahren wollte. Auch hätte sie keine Skrupel gehabt, die Unschuld ihrer erst achtjährigen Tocher zu verkaufen, denn Sureya wußte in diesem Alter bereits alles, was es über Männer und deren Wünsche zu wissen gab – was bei einem Leben auf so engem Raum mit einer Hure wie Nerva nicht weiter verwundern mußte. Was Nerva letztlich davon abhielt, ihre junge Tochter auf die gleiche Art ihr Brot verdienen zu lassen, war nicht Mutterliebe, sondern einzig und allein die Tatsache, daß sie sich keine Konkurrentin im eigenen ›Hause‹ heranziehen wollte. Ihre erfahrenen Augen erkannten schon jetzt in Sureya deren spätere animalische Weiblichkeit, die Männer zu willenlosen Geschöpfen machen konnte. Und sie erkannte noch etwas anderes in ihrer Tochter: den gleichen starken Willen zu überleben, wie sie ihn selbst besaß. Und die gleiche Skrupellosigkeit, die damit einhergehen mußte. Denn in einer Welt, in der Frauen nicht viel anders als ein Stück Vieh behandelt wurden, in der Frauen nicht einmal als angetrautes Weib eines Mannes so etwas wie Sicherheit erlebten, konnte sich keine alleinstehende Frau, noch dazu eine Fahrende, Gefühle wie Rücksichtnahme, Mitgefühl oder Güte leisten. Daher konnte sich Nerva leicht an einer Hand ausrechnen, daß Sureya, ohne einenGedanken an ihre Mutter zu verschwenden, die erste Gelegenheit nutzen würde, um dem ärmlichen Leben zu entfliehen und ihre Mutter zurückzulassen. Doch so weit wollte es Nerva nicht kommen lassen. Ihre Pläne für Sureya sahen anders aus … Und so schlug sie jedes noch so gute Angebot, das ihre Tochter betraf, aus. Es fiel ihr nicht immer leicht, aber schließlich mußte sie an später denken. Wer würde noch mit Nervas verbrauchtem Leib vorlieb nehmen, nachdem er erst einmal vom süßen Honig ihrer Tochter gekostet hatte?
In der Zwischenzeit tat sie alles, um die erwachende Schönheit ihrer Tochter vor allzu neugierigen Augen zu verbergen. Sie kleidete sie in unförmige Lumpen. Sie verbot ihr, sich öfter als alle paar Wochen zu waschen, so daß sie nach kurzer Zeit am ganzen Körper fleckige, teilweise auch offene Stellen hatte, von denen ein fauliger Gestank ausging. Allerdings konnte sie Sureyas Haarpracht nicht völlig abschneiden, denn diese würde notwendig sein, wenn erst einmal der richtige Zeitpunkt gekommen war. Statt dessen zurrte sie die Haare des Mädchens mit alten Bändern dicht an seinem Kopf fest. Derart zugerichtet, wurde das Kind von den Besuchern des Wagens in Ruhe gelassen, und Nerva konnte die nächsten Jahre weiterhin ungestört ihrem Tagwerk nachgehen. Sureya selbst kam es nicht in den Sinn, die Befehle ihrer Mutter in Frage zu stellen, denn sie kannte nichts anderes.
Als ihre Tochter das dreizehnte Lebensjahr erreicht hatte, befand es Nerva an der Zeit, ihre langgehegten Pläne in die Tat umzusetzen. Für diesen Zweck wich sie sogar von ihrer gewohnten Route ab, denn sie hatte ein ganz spezielles Ziel vor Augen: Maulbronn, ein kleines Dorf wie etliche andere. Auch dort hatte sie viele Stammkunden, die jedes Jahr mit Spannung auf Nervas bunten Wagen warteten und die überrascht registrierten, daß er in diesem Jahr drei Monate früher als sonst an der Dorfgrenze Rast machte. Statt ihrer bisherigen Gewohnheit nachzugehen und sich auf die oberste Stufe des Wagens zu setzen, um auf Kunden zu warten, wurdeNerva diesmal von einer ungewohnten Geschäftigkeit getrieben: Beim ersten Morgengrauen weckte sie ihre Tochter mit einem groben Stoß in die Seite und wies sie an, ihr an das kleine Bächlein zu folgen, das sich in sanften Bögen durch das Tal wand. Dort befahl sie ihrer
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