Die Silberdistel (German Edition)
dabei ein schrilles Pfeifen aus und verschwand wieder. Obwohl sicher jeder der anwesenden Männer in seinem Leben schon manche Ratte erschlagen oder zumindest gesehen hatte, dauerte es noch eine Weile, bis sich die Anspannung wieder löste.
Hans fuhr fort, als ob nichts gewesen wäre: »Alle, die heute hier stehen und zum Armen Konrad gehören, haben einen Treueeid geschworen, auf daß unsere Sache nicht verraten werde, und sei’s im Turm oder auf der Streckbank!« Bei diesen Worten nahm seine Stimme einen bedrohlichen Ton an, und er ließ Jerg nicht aus den Augen. »Jetzt fragen wir auch dich, Jerg aus Taben: Schwörst du, im Namen der Dreifaltigkeit, unsere Sache nicht zu verraten, vor dem eigenen Weibe geheimzuhalten, ja, selbst im Angesicht des Todes stille zu sein, dann antworte mit einem lauten Ja!«
Diesmal kam Jergs Antwort ohne Zögern.
»Ja, ich schwöre!«
Gebannt schaute er zu, wie Hans mit einem abgebrochenen Zweig mühselig einen Kreis in den gefrorenen Erdboden kratzte.
»Dann steig in diesen Kreis und bete drei Vaterunser, auf daß dein Schwur von Gott erhört werde.«
Jerg trat in den kaum sichtbaren Kreis. Hans reichte jedem der Männer eine Fackel, die diese anzündeten. In ihrem Schein war Jergs Gesicht hell erleuchtet. Seine nachtblauen Augen, die in einem seltsamen Kontrast zu seinen schwarzen, wilden Locken standen, waren auf Hans gerichtet. Gebannt beobachtete er, wie dieser einen großen Fetzen Stoff auswickelte, den er unter seiner Jacke bei sich getragen haben mußte. Vorsichtig breitete Hans das viereckige Stück aus weißem Leinen aus, das Jerg bei näherem Hinsehen als Fahne erkannte. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Runde, und die Männer starrten auf das Sinnbild ihres Strebens, ohne ihren Blick abwenden zu können. Benommen starrte auch Jerg auf die symbolträchtigen Darstellungen: In der Mitte war ein aus goldenen Fäden gewirktes, großes Kreuz zu sehen, das die Fahne in zwei Hälften teilte. Die linke Ecke wurde von einem Bundschuh ausgefüllt, dessen lange Schnürbänder wie im Wind flatterten. Rechts davon erkannte Jerg einen Vogel, der einen Schlüssel im Schnabel trug.›Es sieht aus, als ob der Vogel im nächsten Moment davonfliegen will! Wer das geschaffen hat, muß ein wahrhaftiger Künstler sein!‹ Jerg konnte sich nicht sattsehen an dieser von mutigen Händen unter Lebensgefahr geschaffenen Handarbeit. Denn was einem Künstler während einer solchen Arbeit drohte, wenn er dabei entdeckt wurde, konnte sich jeder an fünf Fingern ausrechnen.
»Dies ist die Fahne der Freiheit, die eines Tages im Schein der Sonne erstrahlen wird.« Zärtlich strich Hans die groben Falten des schweren Leinenstoffes glatt. »Siehst du das Kreuz in der Mitte? Das ist das Symbol für unsere heilige Sache, die gottgefällig ist und bei der Er uns seine Hilfe schicken wird.«
»Das Kreuz weiß ich zu deuten, aber was besagt der Bundschuh?« fragte Jerg.
»Das ist der Schuh, den wir alle gemeinsam tragen, den jeder Bauer im ganzen Land am Fuße trägt. Er ist das Zeichen der Vereinigung. Der Vogel ist das dritte Zeichen. Er steht für die Freiheit, die unsere heilige Sache verspricht. Doch der Schlüssel zur Freiheit – das sind wir selbst! Nur wenn wir selbst nach Freiheit streben, wird sie sich uns erschließen! Hast du das verstanden?«
Jerg nickte stumm. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
»Knie nun nieder und bete im Angesicht des Kreuzes drei Vaterunser.«
Schwerfällig ging Jerg in die Knie, schwankte dabei ein wenig nach vorne, bis er seinen großen, kräftigen Leib ausbalanciert hatte. Dann sprach er die geforderten Vaterunser mit einer so melodischen Stimme, daß die Männer erstaunt aufhorchten. Keiner hätte diesem kräftigen Burschen mit dem breiten Rücken eines Ochsen die Stimme eines Engels zugetraut! Sein Gesicht, von dem sich die unbeschwerten Züge der Jugend noch nicht zugunsten der Weisheit des Älteren verabschiedet hatten, war für einen kurzen, seltenen Augenblick vollkommen gesammelt.
»… in Ewigkeit Amen.«
»In Ewigkeit Amen«, tönte es gleichzeitig aus zwölf Kehlen.
Hans legte seine Hand auf Jergs Schulter. »Hiermit heißen wir dich feierlich in unserem Bund willkommen! Du gehörst jetzt zu uns, komme was wolle. Die Ziele des Armen Konrad sind nun auch deine Ziele. Die Wiederherstellung des alten Rechtes und die Abschaffung von Knechtschaft und Pein – das ist unser ganzes Sinnen und Trachten.« Von den umstehenden Männern war zustimmendes
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