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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Ausschau nach ihnen gehalten. Ein Geier war das unschädlichste aller Tiere, weil er nichts von dem, was Menschen säten, pflanzten oder aufzogen, zerstörte, sich nur von toten Körpern nährte und nichts verletzte, was lebte. Ja, mehr noch, ein Geier hielt sich sogar von toten Vögeln fern, wegen der Verwandtschaft, wohingegen Adler, Eulen und Habichte auch Tiere der eigenen Art schlugen. Geier waren selten, und sie bedeuteten immer Glück.
    »Dort«, schrie er aufgeregt, als ihm der Atem zurückkehrte. »Seht doch, dort oben!«
    Die Männer um ihn regten sich, folgten seinem ausgestreckten Arm, und Gemurmel breitete sich unter ihnen aus, wie Wellen in einem Teich, in den man einen Stein geschleudert hatte. Antho, die zunächst den Kopf in die Arme vergraben hatte, schreckte durch den Lärm wieder auf. Als sie den Grund erkannte, rappelte sie sich hoch und kniete vor Remus nieder, die Handflächen zu ihm erhoben.
    »Heil dir, Remus«, sagte sie so laut wie möglich. Die Männer nahmen den Ruf auf.
    Remus fühlte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Nun würde alles wieder gut werden; Romulus würde sich fügen, seine Lektion lernen, und die alten Verhältnisse würden wiederhergestellt sein. Er schickte einen seiner Leute los, um Romulus die Nachricht von der Entscheidung der Götter zu überbringen.
    In erstaunlich kurzer Zeit war der Mann wieder da und machte ein sehr unglückliches Gesicht.
    »Verzeih«, sagte er, »doch dein Bruder Romulus behauptet, auch er habe Geier gesehen. Nicht sechs, sondern zwölf. Und damit hätten die Götter eindeutig für ihn entschieden.«
    »Das ist doch lächerlich«, entgegnete Remus mit zusammengebissenen Zähnen. »Es waren keine weiteren Vogelschwärme da, nirgendwo, geschweige denn zwölf Geier auf einmal.«
    Er würde Romulus nicht gestatten, sich auf diese Weise vor den Folgen ihrer Vereinbarung zu drücken. Erzürnt machte er sich auf den Weg zu dem Hügel, auf dem Romulus die Nacht verbracht hatte, seine Anhänger hinter sich.
    Bis er auf dessen Spitze eintraf, keuchte er leicht, doch seiner Wut tat dies keinen Abbruch. Romulus stand mit einem Stock in der Hand da, an dem ein großes, kreuzförmiges Visierblatt befestigt war. Dunkel erinnerte sich Remus, daß der Vater dergleichen zur Landvermessung benutzt hatte.
    »Was redest du da von zwölf Geiern?« rief er empört. »Es gab nur sechs, und wir haben sie alle gesehen. Als erste. Halte dich an dein Versprechen.«
    »Das tue ich«, erwiderte Romulus kalt. »Die Götter haben mir zwölf Geier geschickt, und du wirst keinen Mann hier finden, der dem widerspricht. Und nun sorg dafür, daß deine Leute sich nützlich machen oder verschwinden. Wir haben eine Stadt zu gründen.«
    Er zog mehrere Linien auf dem Boden und fuhr, an niemand Besonderen gewandt, fort: »In den Umrissen etwa so...«
    »Romulus!«
    Als Romulus ihn weiterhin ignorierte, trat Remus vor ihn und zerstörte die soeben gezogen Linien mit einem heftigen Scharren seines Fußes.
    »Hör auf damit, dich hinter solchen Kindereien zu verstecken. Die Götter haben für mich entschieden, so wie es schon immer bestimmt war. Oder bildest du dir ein, eine Stadt auf der Grundlage von Lügen aufbauen zu können?«
    »Nein«, entgegnete Romulus und führte einen blitzschnellen Hieb aus, dessen Ziel Remus erst erkannte, als es zu spät war, als die spitze, so scharf geschliffene Bronze des Kreuzes in seiner Brust steckte. »Aber auf dem Opfer eines Königs.«
    Es schmerzte kaum. Nur ein feiner Stich, geradewegs ins Herz. Das mußte ein Traum sein, anders ließ es sich nicht erklären. Remus hatte Menschen sterben sehen. Sie bluteten viel mehr, oder etwa nicht? Sie taumelten. Sie stürzten. Sie schlugen um sich.
    Es mußte ein Irrtum sein.
    Er beobachtete, wie der Mund seines Bruders sich ein weiteres Mal öffnete, unendlich langsam, und die Laute, die daraus strömten, verzerrten sich zu einer schwer verständlichen Wortkette.
    »So - sterben - alle - Feinde - Roms.«
    Dann spürte er eine Schwäche in den Knien und gab ihr nach, weil er nicht anders konnte. So, wie er Romulus vor nicht allzulanger Zeit aufgefangen hatte, so fing Romulus jetzt ihn auf.
    »Romulus«, flüsterte er, »warum?«
    Sein Bruder erwiderte nichts, doch er ließ ihn nicht los. Natürlich nicht. Ganz gleich, was geschah, sie waren Brüder. Sie waren Zwillinge. Sie würden immer füreinander dasein. Remus klammerte sich an die Schultern seines Bruders, und als sein Blickfeld anfing, sich zu trüben,

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