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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Geschichte erzählte, von der sie glaubte, daß sie ihr am meisten nutzte, jeweils ihrem Publikum angepaßt, so wie er versuchte, die richtigen Vorträge für die Menschen zu schmieden, die ihm gerade ihr Ohr liehen.
    »Aber wenn er das Kind aus der heiligen Ehe leugnet und zurückweist, ruht die Hand der Götter nicht länger über ihm«, sagte der Hohepriester gedehnt und ließ seine Worte wie Wassertropfen in die dürre, drückende Stille fallen, die Ulsna die Kehle zuschnürte.
    »Ja.«
    »Der König muß sterben.«
    »Ja.«
    »Und der neue König - der Sohn der heiligen Ehe. Von den Göttern gezeugt und auserwählt.«
    »Bestätigt und geleitet«, sagte Ilian mit der gleichen ruhigen Stimme, »von Apollon durch sein Orakel in Delphi.«
    »Ich muß darüber nachdenken«, erklärte Iolaos unvermittelt. »Inzwischen«, ein Scharren verriet, daß er sich erhoben hatte, »wird dir die Gastfreundschaft des Gottes zuteil werden. Und seines Orakels.«

    Der Raum, in den man sie gebracht hatte, mußte zu den ältesten Teilen des Gebäudes gehören; er glich einem unregelmäßigen Ei: nicht mehr Kreis, noch nicht Rechteck, ohne feststellbare Ecken; Ulsna gemahnte das Ganze an das Innere einer Auster. Es fehlte jede Art von Wandschmuck, und so konnte man sehen, daß der hintere Teil in den Fels hineinführte. Immerhin fehlte die dumpfe, schwere Luft, die man in einer Höhle vermuten konnte, doch Ulsna war nicht in der Stimmung, das zu würdigen. Er wartete, bis sie wieder allein waren, dann fragte er aufgewühlt:
    »Das hast du nie vorher jemandem erzählt, nicht wahr?«
    Ilian schüttelte den Kopf. Sie kniete sich neben den Krug Wasser, den man ihr gebracht hatte, löste die Spangen, die an den Schultern ihre Chlamys zusammenhielten, und begann stumm, sich mit einem Stoffetzen, den sie in das Wasser tauchte, zu säubern.
    »Ist es die Wahrheit?«
    Ohne innezuhalten oder in seine Richtung zu blicken, entgegnete sie: »Wenn du fragen mußt, dann ist die Antwort bedeutungslos für dich. Entweder du glaubst, oder du glaubst nicht. Das mußte ich selbst herausfinden.«
    Er beobachtete sie und fragte sich plötzlich, wie Ilian aussah, wenn man ihr weh tat. Er hatte sie gekränkt erlebt, wütend und ein paar seltene Male traurig, aber was ihm vorschwebte, war ein Schmerz der gewöhnlicheren Art, ein körperlicher Schmerz. Die Prügelei in der Schenke kam ihm in den Sinn, als sie und Arion ihn verteidigt hatten. Damals hatte er gesehen, wie sie sich nach einem Rippenstoß krümmte. Aber was würde sie tun, wenn jemand sie schlug, nicht mit der Faust, sondern mit einem biegsamen Weidenzweig von der Art, wie ihn sein alter Meister benutzt hatte, um ihn für Unachtsamkeit oder falsche Töne zu bestrafen? Er stellte sich Striemen auf Ilians geschmeidigem Rücken vor, den sie ihm jetzt darbot, rote, schmerzende Striemen von der Art, die aufschwollen, so daß man sich noch tagelang nicht gegen eine Wand lehnen oder auf dem Rücken liegen konnte. Eine Strieme von links, eine von rechts, so daß sie ein Kreuz ergaben, für jede überhebliche Antwort.
    »Und deine Rache soll so aussehen, daß du deinen Sohn auf den Thron von Alba setzt, nachdem er mit Unterstützung des Orakels von Delphi den jetzigen König entthront hat?« fragte er, nun seiner eigenen Gedanken wegen verstört.
    »Das ist es, was der edle Iolaos glaubt«, erwiderte Ilian, und diesmal konnte er leichte Belustigung in ihrer Stimme erkennen. »Und da hat er nicht unrecht. Aber«, sie wurde sehr leise, »dann wäre ich immer noch nur ein Instrument, und das liegt hinter mir. Es genügt nicht mehr.«
    Es lag ihm auf der Zunge, zu fragen, was sie noch wollen könnte, doch er wußte, daß sie ihm darauf nicht antworten würde. Dann fiel ihm etwas anderes auf.
    »Ein Sohn, ein König«, sagte Ulsna, und mit einemmal erschien ihm die Luft im Raum nun doch drückend. »Und was geschieht mit dem anderen Zwilling?«
    Ilians linke Hand, mit der sie sich soeben über die rechte Schulter griff, erstarrte, und ihr Rücken wurde steif. Dann entspannte sie sich wieder und fuhr mit ihrer Reinigung fort, doch die Bewegungen behielten etwas Eckiges.
    »Was die Götter beschlossen haben.« Nach einer Weile, während der Ulsna sie nicht aus den Augen ließ, sich jedoch nicht rührte, fuhr sie fort. »Im übrigen wird mehr als die Unterstützung des Orakels nötig sein, wenn ich sie denn erringe.«
    »Oh, es wird dir schon helfen«, gab Ulsna zurück, und die seltsame Bitterkeit, die ihn

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