Die Söhne der Wölfin
sprach im falschen Rhythmus, doch ihr zuzuhören erwies sich als angenehmer Zeitvertreib, während sie auf die Entscheidung des Orakels warteten. Es machte ihn vertrauter damit, welche Bilder man hier welchen Göttern zuordnete; er mußte zugeben, daß »rosenfingrige Eos« sich durchaus mit »zartblühende Thesan« für die Göttin der Morgenröte messen konnte. Außerdem entdeckte er, daß einige Lieder, die er für rein griechisch gehalten hatte, offenbar doch bereits sehr verändert worden waren, bis er sie in seiner Heimat gelernt hatte. Es kümmerte ihn nicht weiter, denn in der Veränderung lag die Kunst, doch der Vergleich war oft aufschlußreich. Einige Stellen gefielen ihm so gut, daß er Ilian bat, sie ihm zu wiederholen, während er auf seiner Harfe versuchte, die passende Begleitung zu finden und dann die passende Stimmlage, um sie selbst vorzutragen. Ilian erwies sich als dankbares Publikum, und da sie ihn mittlerweile schon so oft gehört und keinen Grund hatte, ihm etwas vorzuspielen, machte ihn das glücklich. Sie bat ihn sogar, ihr das Harfespielen beizubringen, erwies sich jedoch als so hoffnungslos ungeschickt, daß sie es nach ein paar Versuchen aufgab und erklärte, lieber die Ohren der Barden mit Beifall erfreuen als die der Götter mit ihrem eigenen Versagen plagen zu wollen.
Als Iolaos sie schließlich wieder zu sich beorderte, bat sie Ulsna erneut, sie zu begleiten.
»Gern, wenn du mir den wahren Grund verrätst«, sagte er. »Inzwischen hat mir gewiß jemand beim Üben zugehört, so daß man weiß, daß ich Griechisch zumindest singen kann, und den Leibwächter hat mir vermutlich ohnehin nie jemand abgenommen. Ist es nur, um dich dem Orakel gegenüber zu behaupten?«
Ilian zögerte und ließ die Schriftrolle, die sie soeben hielt, von einer Hand in die andere gleiten. Endlich erklärte sie offen: »Es könnte sein, daß ich sterbe, bevor ich mein Ziel erreicht habe. Oh, nicht unbedingt hier. Ein Räuber könnte mich auf der Straße erschlagen, die nächste Krankheit mag von mir nicht mehr besiegt werden. Vielleicht... möchte ich einfach, daß es jemanden gibt, der die Wahrheit kennt.«
»Deiner Kinder wegen?« fragte Ulsna gerührt. Als sie das nicht sofort bejahte, meldete sich in ihm erneut das Mißtrauen, das sich überhaupt erst durch sie so stark in ihm ausprägt hatte und ihn mittlerweile umfangen hielt wie Efeu einen Baum. »Oder damit ich ein Lied auf die zu Unrecht verstoßene Königstochter und Priesterin dichte, das dann weit genug verbreitet wird, um deinem Onkel zu schaden?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe soviel Vertrauen in deine Fähigkeiten als Barde, Ulsna, um sicher zu sein, daß es überall verbreitet werden wird.«
Der edle Iolaos machte auch diesmal keine Anstalten, sich zu erheben, als Ilian den Raum betrat, obwohl er auf einer Liege ruhte. Ilian rührte sich ihrerseits nicht, als er ihr bedeutete, sich auf der zweiten Liege des Raumes niederzulassen. Zuerst fragte sich Ulsna nach dem Grund, dann fiel ihm ein, daß die scheinbar so höfliche Geste in diesem Land eher etwas wie eine Beleidigung oder zumindest eine Prüfung darstellte, denn nur Hetären nahmen Liegen in Anspruch, wenn sich Männer im selben Zimmer befanden.
»Der Gott«, verkündete Iolaos, und seine alte, trockene Stimme klang wie das Rascheln von herbstlichem Laub, »ist deinen Gedanken nicht abgeneigt. Doch fragen wir, seine bescheidenen sterblichen Diener, uns, inwieweit man dir vertrauen kann, und nicht nur, was die Frage angeht, ob du dein Wort hältst. Was du planst, wird Jahre in Anspruch nehmen und mehr erfordern als nur Rachedurst und ein wenig Überzeugungskraft. Höre daher, welche Prüfung dir der Gott auferlegt.«
Ilian stellte mit ihren gefalteten Händen und dem geneigten Kopf ein Muster an Aufmerksamkeit dar, und nicht einmal Ulsna, der glaubte, mittlerweile jede Regung ihres Körpers zu kennen, hätte ihr heimlichen Spott unterstellen mögen.
»Bevor die Menschen nach Delphi kamen, um bei den Göttern Rat zu suchen, war das geachtetste Orakel das des Gottes Amon in Ägypten. Die Götter der Ägypter sind nicht unsere Götter, und die Zeit Ägyptens ist vorüber, doch noch besteht das Orakel. Sie haben dort Wissen, das bis zum Anfang der Welt zurückgeht, und Wege, den Willen der Götter zu ergründen, die uns nicht geläufig sind. Geh nach Ägypten und lerne. Kehrst du mit einem Schatz von Wissen nach Delphi zurück, das man nur dort erwerben kann und das uns allen
Weitere Kostenlose Bücher