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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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erfüllte, schmeckte beißend in seinem Mund. »Ist dir bisher nicht alles gelungen? Wer hat dir nicht geholfen, wenn du es wirklich wolltest?«
    Diesmal ließ Ilian ihren Stoffetzen sinken und drehte sich zu ihm um. Er stellte fest, daß ihr Gesicht feucht war, konnte sich jedoch nicht erinnern, daß sie es bereits gesäubert hatte, und die hellen Wasserspuren waren auch zu unregelmäßig, um von dem Fetzen herzurühren.
    »Bereust du, nicht in Korinth geblieben zu sein?« fragte sie ernst. »Es ist noch nicht zu spät für dich.«
    Er dachte darüber nach. »Wenn ich es bereue«, meinte er schließlich, »wirst du mich nicht länger an deiner Seite sehen. Bis dahin gibt es nur Dinge, die ich mir gelegentlich anders wünschte.«
    Sie nickte und deutete auf den Wasserkrug. Mit einem ihrer jähen Stimmungsumschwünge stahl sich ein Lächeln in ihre Mundwinkel. »Wenn dich der Eindruck plagt, daß ich vom Schicksal bevorzugt werde, gibt es etwas, das du dagegen tun kannst. Du brauchst nicht zu warten, bis ich fertig bin. Wasche dich gleich und scheue beim nächsten Mal nicht davor zurück, schneller zu sein als ich.«
    Er spürte das nasse Klatschen auf seiner Haut schon, bevor er registrierte, daß sie mit dem Lappen nach ihm geworfen hatte. »Den letzten beißen die Wölfe«, sagte sie, und er konnte nicht mehr unterscheiden, ob sie im Spaß oder im Ernst sprach.

    Der edle Iolaos, Oberhaupt des Kollegiums der Apollon-Priester zu Delphi, brauchte zwei Tage, ehe er Ilian erneut zu sich bat. In dieser Zeit wurde sie einmal zur Pythia geführt, der Frau, welche die Dämpfe der heiligen Spalte einatmete und mit der Zunge des Gottes sprach, eine Begegnung, an der Ulsna nicht teilnehmen durfte, obwohl ihn die Neugier beinahe verbrannte. Hinterher teilte ihm Ilian nur mit, die Pythia habe keine Botschaft für sie gehabt, die ihr nicht schon bekannt gewesen sei, und im übrigen stünden fortwährend zwei Mitglieder des Kollegiums in ihrer Hörweite, um ihre Worte zu deuten.
    »Ich muß sagen, ich ziehe unsere Art, die Götter zu befragen, vor«, schloß sie. »Blitz und Vogelflug bedürfen weder der Aufsicht noch einer Übersetzung. Aber diese Art mag nützlicher sein - für das Orakel.«
    Da Apollon für die Griechen auch der Gott des Gesanges war, hatte Ulsna gehofft, in dessen Tempel einige Barden zu finden; eine Hoffnung, die sich als trügerisch erwies. Dafür brachte man ihm, nachdem er, weiterhin mangelnde Griechischkenntnisse vorschützend, durch Ilian nach anderen Musikern gefragt hatte, als Ersatz einige Schriftrollen, in denen sich zu seinem Entsetzen Aufzeichnungen von Gesängen befanden, wie ihm Ilian nach einem kurzen Blick darauf mitteilte.
    »Und so etwas hier!« empörte er sich.
    »Was ist daran falsch, Lieder aufzuzeichnen?«
    »Nur Nichtskönner versuchen dergleichen«, wiederholte Ulsna die Worte seines Meisters. »Im übrigen ist es auch sinnlos. Kein Gesang ist jemals gleich. Man muß ihn der Stimmung des Publikums anpassen. Singt man vor einem Fürsten, empfiehlt es sich, ein paar Komplimente über weise Herrschaft und Warnung vor falschen Ratgebern einzubauen; bei einer Siegesfeier müssen Einzeltaten, die denen des wichtigsten Zuhörers ähneln, dem Helden zugeschrieben werden, und so weiter. Die Herausforderung liegt ja gerade darin, das Lied auf die Gelegenheit zuzuschneiden und dabei im Versmaß zu bleiben und Bilder zu finden, die sich makellos zum Rest des Gesangs fügen. Nur ein Pfuscher singt immer das gleiche!«
    »Gewiß hast du recht, aber es könnte sich dennoch für dich lohnen, diese Schriftrollen durchzugehen. Vielleicht enthalten sie griechische Weisen, die du noch nicht kennst. Du kannst deine Überlegenheit dann zeigen, indem du sie in deinem Stil veränderst.«
    »Ilian«, sagte Ulsna mißtrauisch, »das ist nicht lustig.«
    »Ich meine es ja auch ernst.«
    »Ich kann nicht lesen«, gab er nach einer Weile zu und biß sich auf die Lippen. »Und ich möchte es auch nicht lernen! Ein Schritt auf den Pfad der Schwäche, und... außerdem würde es das Andenken meines Meisters entehren.«
    »Wie wäre es, wenn ich sie dir vorlese?« schlug Ilian vor. »Auf diese Weise bleibt deine Ehre als Barde gewahrt, und wir haben beide etwas davon.«
    Für jemanden, der nicht ausgebildet worden war, trug sie nicht übel vor; allerdings nahm Ulsna an, daß ihr Rezitieren von Gebeten als eine Art Ausbildung angehen mochte. Hin und wieder stolperte sie über ein Wort, das ihr unbekannt war, oder

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