Die Somalia-Doktrin (German Edition)

traditionellen sozialen Strukturen, die eine Gesellschaft für gewöhnlich zusammenhielten, zerfielen im geistlosen Chaos eines von Banditen beherrschten Camps.
    Das Brummen eines Motors durchbrach die Stille der Wüste. Eine einmotorige Cessna hielt aus nördlicher Richtung auf das Lager zu. Jim hatte freien Blick auf die Landebahn. Er stellte den Feldstecher auf sie scharf und sah die Maschine mit einem Aufsetzer landen. Ein Mann sprang heraus, den Jim auf der Stelle erkannte.
    Jim kroch den Hang wieder hinab und lief zurück zum Land Rover. Maxine und Abdullah öffneten die Türen.
    Harry ist angekommen«, sagte Jim nur.
    Er riss die Hecktür des Fahrzeugs auf, winkte die beiden zu sich und begann das Arsenal durchzugehen.
    Sie mussten den Angriff planen; es war höchste Zeit.
    Die Technicals umkreisten die Cessna in einer Demonstration, die Harry nicht zu beeindrucken vermochte. Die Kids hinter den Maschinengewehren obenauf hatten einen irren Blick in den Augen. Einige wären um ein Haar heruntergefallen, als die Fahrzeuge wenige Meter von der Maschine schleudernd zum Stehen kamen. Othman sprang aus einem von ihnen und marschierte auf Harry zu.
    »Habt ihr ihn gefunden?«, fragte Harry.
    »Bisher nicht.«
    »Worauf zum Teufel wartet ihr denn? Lass dein Gesindel das Lager nochmal durchkämmen.«
    »So spricht man nicht mit mir.«
    »Ich spreche mit dir, wie’s mir verdammt noch mal passt, Othman, mein Junge«, schrie Harry. »Du findest mir jetzt diesen verdammten Vertriebenen. Dann red ich anders mit dir.«
    Othman trat vor, bis er Harry direkt gegenüberstand. Harry hielt seinem Blick stand. Einige Augenblicke sah es fast so aus, als wollte Othman auf ihn losgehen. Stattdessen spuckte er auf den Boden und drehte sich auf dem Absatz um. Er bellte seinen Leuten, die sich die Szene mit einem unguten Gefühl angesehen hatten, einige Befehle zu und sprang wieder in seinen Wagen. Die Technicals fuhren los. Nur drei Khat kauende Milizleute blieben an der Cessna zurück.
    Harry befingerte seine Pistole. Die Beziehung zu Othman ging ihrem Ende entgegen.
    Knirschende Kiesel und Sand unter den Stiefeln, war Jim seit einer halben Stunde zu Fuß unterwegs. Die Sonne war untergegangen. Die verstreuten Lichter des IDP-Camps waren einige Hundert Meter weit weg. Er ging in die Hocke und blickte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Lichter von Abdullahs und Maxines Land Rover bewegten sich langsam auf das Lager zu. Dann blieben sie stehen. Taschenlampen leuchteten auf. Sie hatten die Straßensperre erreicht.
    Jim hob das Glas. Einer der Milizleute stand neben dem Fahrerfenster und sprach mit Abdullah. Andere kamen näher. Sie rissen Khatblätter von ihren Stängeln und stopften sie sich in den Mund. Jim hielt den Atem an. Einige Augenblicke später trat der erste Milizmann zurück und winkte den Land Rover durch.
    Abdullah und Maxine mussten mit ihrem Bestechungsversuch Erfolg gehabt haben. So weit, so gut. Aber das war der einfache Teil. Der Rest des Plans sah vor, dass Abdullah und Maxine Kontakt mit Abdullahs Kollegen vom Roten Halbmond aufnahmen und den Flüchtling auftrieben, bevor Harry ihn fand. Jim sollte sich inzwischen an die Cessna heranarbeiten, sich dort verstecken und sie mit Gewalt nehmen, sobald Abdullah und Maxine mit dem Flüchtling auftauchten. Wenn es ihnen gelang, die Maschine mitsamt dem Piloten zu entführen, könnten sie entkommen, bevor die Hölle losbrach.
    Jim hatte seinen Begleitern nicht gesagt, dass er nicht die Absicht hatte, mit ihnen zu fliegen. In dem Augenblick, in dem sie entkommen wären, gäbe es für ihn nur noch eines, nämlich Harry zu finden.
    Und dann zu töten.
    Der Konvoi aus Technicals raste die unbefestigten Straßen zwischen den Hüttenreihen entlang und überfuhr alles, was im Weg war. Kinder und Erwachsene stoben davon. Harry grinste.
    Vor ihnen tauchte ein mit brennenden Scheinwerfern geparktes Fahrzeug auf. Eine Person stand dagegengelehnt und rauchte. Harry tippte auf Patrick. Hinter ihm standen zwei weitere allradgetriebene Fahrzeuge; Bewaffnete standen um sie herum.
    Nach einer kurzen Rutschpartie kam Harrys Fahrzeug zum Stehen. Er sprang hinaus und ging hinüber.
    »Hast du Sie gefunden?«
    »Noch nicht.« Patrick trat mit dem Absatz die Kippe in den Sand. »Wir hatten eine Panne. Wir konnten sie nicht einholen.«
    »Wo sind sie?«
    »Hier im Lager. Die Straßensperre hat sie durchgelassen.«
    »Na dann mach dich besser mal auf die Suche, du Idiot!«, rief