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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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wurde ein wenig breiter. »Allein in deiner Stadt leben drei Älteste. Du siehst sie jeden Tag auf der Straße und hast keine Ahnung.«
    »Du bist verrückt«, flüsterte Joey. »Älteste in Woodmont? Du bist verrückt.«
    Indigo lachte sie an, und der Klang war fast so spielerisch und schwer zu fassen wie die Musik. »In Woodmont und überall sonst, wo die Grenze eure Welt berührt. Siehst du, ich habe es dir gesagt, sie lügen, Sinti und alle anderen. Wir können hier leben, ohne Schaden zu nehmen. Wir können sehr wohl hier leben.«
    Joey wollte schon schreien: »Nein, ich glaube dir nicht«, doch plötzlich erinnerte sie sich an die nachdenkliche Stimme Prinzessin Lishas: »Vielleicht ist Shei’rah nur deshalb an eure Welt gebunden, weil wir so grenzenlos fasziniert von euch sind.« Sie senkte ihre Stimme, weil sie John Papas zurückkommen hörte, und fragte Indigo einfach: »Warum? Warum sollte einer von euch hier leben wollen? Wie wir aussehen wollen? Wenn er ein Ältester in Shei’rah sein kann?«
    Einen Moment lang, während Indigo sie ansah, war weder etwas von dem üblichen, beiläufigen Hohn in seiner Miene zu sehen noch etwas von der Schönheit einer anderen Welt, sondern etwas, das menschlichem Schmerz ähnelte. So leise wie sie sagte er: »Und meinst du, das wäre so wunderbar? Auf ewig magisch, engelsgleich, rein zu sein, ohne irgendeine Wahl zu haben? Kein Mitspracherecht, wer du bist, weil du das bist, was du bist? Ich sage dir, du dummes, dummes, unwissendes, trauriges, kleines, sterbliches Wesen: Lieber möchte ich in deine Haut schlüpfen als in die des Lord Sinti höchstpersönlich. Und keiner der Ältesten hat so etwas jemals zu irgendeinem Wesen gesagt.«
    »Na«, sagte Joey. »Herzlichen Glückwunsch.« Sie war zwar wütend über Indigos Worte, aber die Leidenschaft in seiner Stimme machte sie so benommen, daß ihr nichts anderes einfallen wollte. John Papas gesellte sich mit müden Augen zu ihnen. Er sagte: »Vielleicht kann ich noch etwas mehr Gold auftreiben. Komm in ein paar Tagen wieder, dann sehen wir weiter.«
    »Vielleicht«, sagte Indigo. Er nahm das silberblaue Horn aus John Papas’ Händen und war ohne ein weiteres Wort verschwunden, obwohl Joey ihm nachrief: »Hör doch, warte, wir müssen reden!« Die Tür knallte, und sie blieb mit John Papas allein; sie sahen einander leeren Blickes an, während die Musik Shei’rahs noch immer irgendwo in den staubigen Ecken des Ladens lachte.
    Tonlos sagte John Papas: »Ich muß es haben. Noch nie in meinem Leben hat es etwas gegeben, was ich so sehr besitzen wollte wie dieses Ding, dieses Horn. Ich schäme mich, daß ich es so sehr will, wenn ich ehrlich sein soll.«
    »Ich weiß«, sagte Joey. »Wirklich. Aber es ist verrückt. Das kann er doch nicht machen, einfach sein Horn verkaufen. Es ist mir egal, was er sagt… wenn sie ihr Horn hier verlieren, die Ältesten, dann können sie nie mehr nach Shei’rah zurück.
    Er wird hier sterben, Mr. Papas, er weiß, daß er hier sterben wird!«
    »Seine Sache«, sagte John Papas. »Seine Entscheidung. Ich habe keine Grenze überschritten, also weiß ich nur« – und plötzlich streckte er eine Hand aus und verwuschelte ihr das Haar-, »daß ich ein struppiges, kleines Mädchen habe, das sich hier ständig herumtreibt, und plötzlich ist sie mit einer Musik angefüllt, wie ich sie noch nie gehört habe, wie sie noch niemand je gehört hat. Aber sie werden es hören. Jesus, Maria und alle Heiligen, das werden sie.«
    Joey wollte ihn unterbrechen, aber er war nicht aufzuhalten, träumte laut, wie sie es noch nie erlebt hatte. »Okay, das Wichtigste ist, daß du jetzt ganz schnell lernst, die Musik aufzuschreiben, du mußt lernen, wie man die Stimmen miteinander verwebt, verstehst du? Du mußt es so machen, daß die Menschen dieses Land sehen, in das du gehst, dieses Shei’rah, damit sie es fühlen, nicht nur hören. Vor uns liegt viel Arbeit, Josephine Angelina Rivera.« Sanft schob er sie zum Klavier zurück.
    »Ich kann nicht«, sagte Joey. Ihr Mund war trocken, und ihr Hals tat weh. Sie sagte: »Ich muß gehen, wir sehen uns morgen.« Und schon war sie draußen, einen Moment von der grellen Sonne geblendet, dann rannte sie die Straße hinab, schwitzend und in Panik, stieß mit Leuten zusammen, starrte in jedes Gesicht, an dem sie vorüberkam, auf der Suche nach alten Augen aus Shei’rah.
    Zu ihrer eigenen Überraschung holte sie Indigo schon nach zwei Blocks ein. Er ging langsam, dieses eine

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