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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Satyr. Joey blinzelte, verstand nicht. Ko sagte: »Wenn du noch länger in dieser Welt bleibst, wird auch in deiner eigenen Welt Zeit vergangen sein. Der Lord Sinti hat mir befohlen, dich zur Grenze zu geleiten.«
    »Oh. Stimmt. Ja.« Ziellos sah Joey sich um, fühlte sich plötzlich so orientierungslos und voller Zweifel wie damals, als sie Shei’rah betreten hatte. Sie sagte: »Ich muß mich noch von einigen Leuten verabschieden. Von der Bach-Jalla, Fireez, Lisha, Touriq, allen Ältesten …«
    Ko schüttelte den Kopf. »Dafür wird keine Zeit mehr sein. Denk daran, wie lang die Reise dauert.« Als er sah, daß ihre Augen vor unvergossenen Tränen ganz groß wurden, fügte er sanft hinzu. »Tochter, die Ältesten werden uns bis zur Grenze begleiten, so wie sie uns aufmerksam gefolgt sind, als du herübergekommen bist. Nur verstehen sie kein Lebewohl. Keiner von uns hier versteht es, höchstens meinesgleichen, und die auch nur vielleicht.« Er nahm sie bei der Hand, lächelte das sorglos schiefe Lächeln der Tirujai. »So ist Shei’rah nun mal«, sagte er. »Komm jetzt.«
    Der Weg schien erheblich kürzer als zuvor, obwohl die Sonne bereits untergegangen war, als sie in ein schmales, schattiges Tal hinabstiegen und Joey zum ersten Mal die Grenze sah. Im letzten Licht erschien sie ihr wie ein helles, flüchtiges Kräuseln der Luft: eine Art Zerrspiegel, der alles Land jenseits davon in heimtückische Schatten und wehenden Schnee verwandelte. Joey sagte: »Hier war es nicht. Was ist, wenn ich am Ende in New York oder sonstwo lande?«
    Ko klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Das wird nicht passieren.«
    »Du bist noch nie selbst rübergegangen … woher weißt du, wo ich am Ende rauskomme?« Plötzlich hatte sie das Gefühl, daß sie kurz davor war, in Panik auszubrechen.
    Ko blieb gelassen. »Die Grenze ist die Grenze. Du trittst da heraus, wo du hereingekommen bist, Tochter. Darauf gebe ich dir das Wort des Lord Sinti.«
    »Na ja«, meinte Joey. »Wenn Sinti es sagt.« Sie betonte den Namen des schwarzen Einhorns, sah für einen Moment den verletzten Ausdruck in Kos zottigem Gesicht, den er ebenso rasch wieder verbarg, und stolperte zu ihm hin, um ihn zu umarmen. »Es tut mir leid, es tut mir leid«, murmelte sie. »Mir ist nur so … ich weiß nicht, ich fühl mich nicht gut. Ich hasse das.«
    Das Haar des Satyrs roch ungewaschen und nach Wild und wunderbar. Er sagte: »Dann komm wieder. Die Grenze wird da sein. Shei’rah wird noch da sein. Komm zu uns zurück, wann immer du willst.«
    »Aber es bewegt sich«, schniefte Joey. »Sinti hat es mir gesagt. Shei’rah bewegt sich, die ganze Zeit. Wahrscheinlich werde ich es nie mehr wiederfinden.«
    Ko hielt sie ein Stück von sich weg und zwinkerte ihr feierlich zu. »Ich glaube, Tochter – allerdings sage ich nur, ich glaube –, daß Shei’rah eine Weile auf dich warten wird. Wir werden uns bald wiedersehen.« Er deutete auf einen schläfrig vollen Mond, der gerade zwischen den Bäumen emporschwebte. »Der allerdings wird nicht warten. Geh jetzt.« Noch einmal umarmte er sie, dann drehte er sie um, nahm sie bei den Schultern und schubste sie sanft hinein in das neblige Leuchten, das die Welt der Einhörner, Satyrn und Fünfzehn-Zentimeter-Drachen von der Welt trennte, in welche sie gehörte. Joey rieb sich die Augen, wollte sich schon umsehen, tat es nicht, hörte ein letztes, keckes, herzzerreißendes Aufflackern der geliebten Musik, die verstummt gewesen war, nachdem sie sich mit Ko zur Grenze aufgemacht hatte, und begann, den Hang in ihren Wanderstiefeln hinabzusteigen, die sich nun wie eiserne Ketten anfühlten, trottete müde, doch ohne Zögern direkt durch den prickelnden Schimmer…
    … und beinahe gegen einen Briefkasten an der Ecke Alomar und Valencia, zwei Blocks von ihrem Haus entfernt. Sie hielt sich daran fest, benommen und verwirrt, gaffte leeren Blickes in die Runde. Die Nacht war so dunkel wie damals, als sie diese Straße entlang der Musik nachgelaufen war, und derselbe Halbmond – nicht der Mond von Shei’rah – stand niedrig im Osten. Wiederholt schüttelte Joey den Kopf, schluckte fest, wartete, ob ihr übel werden würde und verbarg ihr Gesicht am Briefkasten, für den Fall, daß ein Passant gesehen hatte, wie sie aus dem Nichts hervorgetreten war. Schließlich holte sie tief Luft, richtete sich bebend auf und machte sich auf den Heimweg.
    Zu Hause wachte niemand auf, als sie auf Zehenspitzen die Treppe erklomm. Sie sank aufs Bett,

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