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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Mal zumindest, wie stets in fließenden Bewegungen, doch seine Schultern wirkten etwas schlaff, Kopf und Nacken weniger arrogant erhaben. Das silberblaue Horn trug er unter den Arm geklemmt.

    Neben ihm paßte sich Joey seinem Schritt an, atmete tief durch. Sobald sie wieder sprechen konnte, drängte sie: »Okay, zeig sie mir.« Indigo sah sie an und wandte sich ab. Joey sagte: »Die Ältesten. Wo sind sie? Zeig mir nur einen.«
    Indigo ging schneller. »Wieso sollte ich? Ich habe anderes zu tun.«
    Joey lachte: »Weißt du, was Abuelita, meine Großmutter, über Leute wie dich sagt? Sie sagt, ihr seid nur Federn.« Indigo blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Joey lächelte ihn an. »Kein Vogel«, sagte sie. »Nur Federn.«
    Einen Augenblick lang schien es ihr, als sähe Indigo seltsam müde und fast traurig aus, als er sie anstarrte. Drei Mädchen schoben sich im Zwielicht an ihnen vorbei, wandten sich ab. Ein Eiswagen kam die Straße herunter und spielte »The Entertainer«. Indigos blaue Augen füllten sich wieder mit Hohn, der aus einer tiefen, uferlosen Quelle gespeist wurde, und er sagte: »Wieso nicht? Wieso eigentlich nicht? Komm mit.«
    Sie mußte fast hinter ihm herlaufen, obwohl er gar nicht versuchte, sie abzuhängen. Im Gegenteil, jedesmal, wenn sie über einen großen Parkplatz oder durch eine volle Einkaufspassage kamen, nahm er sie beim Arm, damit sie nicht verlorenging. Sie kamen ins Geschäftsviertel, wo Woodmont mit einem anderen Vorort auf der gegenüberliegenden Seite der Autobahn verschmolz und man bis neun oder zehn Uhr abends einkaufen konnte. Indigo führte sie von einer neonbeleuchteten Ladenfront und Spielhalle zur nächsten, aus denen jedesmal noch lautere und häßlichere Musik drang. Sie beobachtete ihn, wie er die Menge absuchte, sein Kopf schnell, gespannt und niemals in Ruhe, und sie dachte: Er liebt es, das alles, er liebt alles, was nicht Shei’rah ist. Ich werde es nie verstehen.
    »Wenn sie da ist, sitzt sie hier«, sagte er plötzlich, nickte zum Eingang von »Mex to the Max Tacos« hin. »Aber ich glaube, sie ist schon wieder zu ihrem Schlafplatz zurückgekehrt. Komm.«
    Die Autobahn überragte fast die höchsten Häuser Woodmonts, doch eine Ausfahrt führte direkt ins Geschäftsviertel. Indigos Hand umfaßte schmerzhaft Joeys Handgelenk, als er sie in die brütende Dämmerung zwischen den Pfeilern zog. Seltsamerweise war es hier nicht so laut, wie sie erwartet hätte, es schien, als dämpfte die Dunkelheit das hohle Dröhnen der Straße über ihnen. Indigo sagte: »Hier lang.«
    Joey trottete ihm über geborstenen Asphalt hinterher, wich aufgestauten Pfützen und Müllhaufen aus, bekam aber trotzdem Ölflecken an die Schuhe. Gestalten huschten vorbei oder flüchteten vor ihnen ins Halbdunkel, schoben klappernde Einkaufswagen, trugen große Packen Pappe unterm Arm oder rangen wie verzweifelte Weihnachtsmänner mit übervollen grünen Plastiksäcken. Niemand sprach mit Joey oder Indigo, keiner bettelte um Kleingeld. Einige der Frauen sahen sie direkt an, die Männer nie.
    Sie hatte die Musik Shei’rahs schon einige Zeit im Ohr, als sie sie tatsächlich hörte, in dieser Umgebung. Sie klang so wund wie die Augen der Menschen unter der Autobahn, flatterte vor ihr kurz aus einem einzelnen Horn auf, hinkte dann jedoch gleich wieder, aber es war unverkennbar Shei’rah, das sich dort bemerkbar machte. Joey verharrte bewegungslos.
    Indigo winkte ungeduldig. »Komm. Wolltest du nicht sehen, wie eine Älteste in eurer Welt, in eurer Zeit lebt? Hier ist sie, komm schon.« Er ging weiter, ohne sich umzusehen, und nach einer Weile folgte Joey ihm.
    Die Frau saß auf einem Stapel alter Zeitungen mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt und spielte auf einem scharlachroten Horn, das halb so groß war wie sie. Die zahlreichen Schichten ihrer Kleider besaßen die Farbe toter Haut. Sie hatte schweres, schmutziges, rotes Haar, ein schmales Gesicht mit knorrigem Kinn und blassen Augen, deren äußere Winkel nach unten geneigt waren. Doch als sie Indigo erkannte, erwärmte sich ihr Lächeln vom unverkennbaren Licht der Grenze, und als sie das Horn wie ein königlicher Trompeter hob, stach für einen Augenblick die Musik Shei’rahs in Joeys Herz, wie immer, ohne daß sie diese erwartet hätte oder für sie bereit gewesen wäre. Doch brach sie bald ab, franste aus, löste sich auf, wanderte weiter wie Wasser auf einem Boden, der zu trocken ist, um es aufzunehmen. Die Frau zuckte mit den

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