Die Sonate des Einhorns
aufgeplusterte, blonde Empfangsdame – Abuelita nannte sie la bizcocha rubia, die besorgte Blondine – gurrte zu ihnen herüber, wie sie es immer tat, wenn sie sich abmeldeten. »So süß, das sagen alle! Und jetzt wollen wir auf unsere wöchentliche Spritztour gehen, was? Nein, wie reizend!
In einem ernsten, präzisen Englisch, das sie nach wie vor beherrschte, wenn ihr danach war, erwiderte Abuelita: »Nein. Ich unternehme mit meiner Enkelin Josephina einen Spaziergang. Sie bleiben hier und beten, daß vor der Mittagspause keiner stirbt. Komm, Fina.« Sie zwinkerte Joey zu, als sie sich umdrehte, aber in ihrer Bewegung lag etwas, als fiele eine Tür ins Schloß.
»Ich habe mein Nickerchen ausgelassen«, fuhr sie auf spanisch fort, während sie Joey unterhakte. »Sie mögen es nicht, wenn wir unser Nickerchen auslassen. Ich glaube, das ist die Zeit, in der sie einander näherkommen.« Hinter ihnen sagte la bizcocha rubia immer wieder, lauter und immer lauter, zu einem alten Mann, der wäßrige Augen hatte und einen Bademantel trug: »Mr. Gerber, Sie können sie nicht finden, weil sie seit zwei Wochen im Krankenhaus liegt. Sie ist im Krankenhaus, Mr. Gerber!«
Leise sagte Abuelita zu Joey: »Seine Frau ist tot. Die andere Frau, die uns solche Sachen sagen soll, hat Urlaub. Sie sagt es ihm dann nächste Woche, wenn sie wieder da ist.«
»Ich hasse dieses Haus«, sagte Joey. »Ich hasse das Essen. Ich hasse den Geruch … es riecht wie im Krankenhaus, nur daß sie hier die Leute nicht gesundmachen, sondern bloß ruhigstellen. Ich wünschte, du würdest wieder bei uns wohnen.«
Abuelita legte Joey einen Arm um die Schultern. »Es würde niemals funktionieren, Fina. Ich bin zu alt und stur und gemein, um mit irgendwem zusammenzuwohnen, ehrlich… wahrscheinlich würde es nicht mal mehr mit deinem Großvater funktionieren, wenn er zurückkommen könnte. Und ich kann nicht allein leben, das weiß ich, wegen meiner Arthritis, und außerdem falle ich manchmal um. Also ist dieses Haus für mich wie alle anderen, nicht schlechter, nicht besser. Machen wir jetzt unseren Spaziergang, ja?«
Silver Pines lag auf einem flachen Hügel, mit Blick auf zwei Autobahnen und einen Friedhof. Abuelita fand das urkomisch, aber ihr Sinn für Humor hatte ihrer Familie schon immer Sorgen bereitet, nur Joey nicht. Die beiden spazierten Ann in Arm, plauderten geruhsam auf spanisch, umrundeten den Swimmingpool zum Golfkurs hin, welcher der soziale Dreh- und Angelpunkt dieses Pflegeheims war. Direkt dahinter lag eine kleine, sorgsam gestaltete Parkanlage, in der die Bewohner flanieren sollten und wo jede Woche Talentwettbewerbe und manchmal Tai-chi-Kurse stattfanden. Joey und Abuelita konnten, wenn sie langsam gingen, den gesamten Park in elf Minuten umrunden. Normalerweise drehten sie drei Runden.
Joey brauchte bis weit in die zweite Runde, ehe sie zögerlich herausbrachte: »Abuelita, glaubst du eigentlich an andere Welten? Nicht andere Planeten, das meine ich nicht. Nur andere … andere Orte, ganz in der Nähe, die man nicht sehen kann?«
Milde überrascht sah die alte Frau sie an. »Natürlich, Fina. Der Ort, an dem Ricardo, dein Großvater, auf mich wartet, von wo aus er über uns wacht… natürlich glaube ich daran. Wieso nicht?«
»Na ja, ich dachte eigentlich nicht an den Himmel oder so was«, sagte Joey. »Eigentlich nicht.«
Abuelitas leises Lachen klang warm und dunkel. »Ich auch nicht. Ich kenne doch deinen Großvater.« Sie blickte noch tiefer in Joeys Augen. »Fina, in meinem Alter kann ich glauben, was immer ich möchte, so lange ich es möchte, also vielleicht ja, vielleicht könnte ich an andere Welten glauben, vielleicht an einige von ihnen, wer weiß? Wieso fragst du?«
Joey holte tief Luft, atmete sie in knappen, kleinen Schnaufern wieder aus. »Weil ich … weil… ich weiß nicht, Abuelita. Vergiß es.«
Ihre Großmuter blieb stehen. »Fina, was?« Sie legte ihre gedrungenen, überraschend kräftigen Finger auf Joeys Handgelenk.
»Gatita, pajarita, was ist los? Erzähl, mein Kätzchen, mein Vögelchen.«
»Weil«, sagte Joey. Noch einmal holte sie tief Luft. Plötzlich platzte sie auf englisch heraus: »Weil es wirklich eine andere Welt gibt, einen anderen Ort, was auch immer, und ich war da. Da sind Satyrn und Phönixe und zweiköpfige Schlangen, und es gibt Einhörner, Abuelita, nur nennen sie sich selbst ›die Ältestem, und sie machen diese Musik, die kommt aus ihnen raus, die kann man überhaupt nicht
Weitere Kostenlose Bücher