Die Sonate des Einhorns
Schultern, scheinbar unberührt.
»Oh, mein Gott«, sagte Joey leise. Sie schob sich an Indigo vorbei und stand vor der Frau, sagte: »Was machen Sie hier? Sie gehören nicht hierher. Sie müssen zurück nach Shei’rah.«
Die blassen Augen der Frau – aufgequollen, rot umrandet, doch immer noch schmerzlich klar wie der Himmel über Shei’rah – musterten sie mit kalter Gelassenheit. »Mir gefällt es hier«, sagte sie. Sie griff nach einem schmutzigen Styroporbecher und hielt ihn ihr hin, schüttelte die wenigen Münzen, so wie John Papas seinen Holzkasten geschüttelt hatte.
Joey hätte die Frau am liebsten an ihren hohen, dürren Schultern gepackt. »Was reden Sie da? Es kann Ihnen doch nicht gefallen, auf der Straße zu betteln, diese Musik für ein paar Groschen zu spielen! Sie erinnern sich an Shei’rah, ich weiß es, ich weiß, daß Sie’s tun! Da drüben sind Sie ganz oben, Sie sind wie eine Prinzessin, es ist Ihre Welt. Was tun Sie?«
Die Frau nickte nur schläfrig an ihr vorbei Indigo zu, der neben Joey trat und in die Hocke ging, wobei seine Augen offenbar nur ihre Augen sahen. »Mir gefällt es hier auch«, sagte er ganz leise zu ihr. »Hallo, Valadyi.«
»Indigo«, murmelte die Frau. Sie ließ das Horn sinken und erwiderte seinen eindringlichen Blick. Joey wich zurück, fühlte sich unsichtbar und ausgeschlossen. Mit einem Fuß rutschte sie auf etwas, von dem sie wußte, daß sie es sich besser nicht näher ansehen sollte, und wütend schabte sie es auf den Asphalt, der sich anfühlte, als wäre er so weit entfernt wie Shei’rah. Indigo sagte etwas, das Joey nicht verstehen konnte, doch seine Stimme klang erstaunlich liebevoll. Die Antwort der Frau war ein Lachen, und deutlich sagte sie: »Nein, es ist schön hier. Es ist schön.«
Irgend etwas stieß von hinten gegen Joey, warf sie beinahe um. Ein untersetzter, fast kahler, schwarzer Mann mit fleckig grauem Bart schob seinen Einkaufswagen zwischen sie und Indigo, der eilig zurückwich. »Hab’ was für dich«, erklärte er der Frau mit einer Stimme, die vor Asthma knarrte. Er wühlte zwischen namenlosen Dingen in seinem Karren herum, bis er eine schmierige, weiße Tüte zutage förderte. »Stück Pizza und eine Diät-Fresca. Hier, nimm.«
Die Frau lächelte scheu und nahm ihm die Tüte ab. Sie bot ihm einen Bissen von der harten Pizza an, doch er schüttelte den Kopf, ächzte: »Nein, Baby, die ist für dich. Mach du nur, iß sie auf.« Er breitete neben ihr eine Zeitung aus, setzte sich vorsichtig darauf, legte der Frau seinen schweren Arm um die Schulter und ließ seinen Blick erst dann über Indigo und Joey schweifen. »Das ist meine Frau«, sagte er mit fester Stimme. »Wir sind zusammen.«
»Ja«, sagte Indigo ganz sanft. »Ja, das kann man sehen.« Er machte eine kleine Abschiedsgeste, tippte sich an die Stirn, wo das Horn gewesen wäre. Die Frau hob träge ihr eigenes, rotes Horn und grüßte ihn mit einer knappen Seifenblasenfanfare aus Shei’rah. Indigo wandte sich ab und ging davon.
Joey war schon weggegangen, schnell, mit gesenktem Kopf, als marschierte sie gegen den Wind, und nun war Indigo damit an der Reihe, ihr hinterherzuhetzen. Sie sprach erst, als sie an der Abfahrt vorbeigekommen waren und der Autobahn den Rücken kehrten. Dann sagte sie: »Das war schrecklich. Sitzt da im Müll, ernährt sich von Pizza… eine Älteste! Das ist das Furchtbarste, Schlimmste, was ich in meinem ganzen Leben je gesehen habe.«
»Wie interessant.« Indigos Stimme klang trocken, jedoch nicht im geringsten spöttisch. »Aber ich bin ein Ältester und viel älter als du, und das war nun wirklich das Schönste, was ich je gesehen habe. Aber das wirst du nie verstehen.«
»Nein«, sagte Joey. »Niemals.« Sie lief weiter, ohne einmal aufzusehen, und deshalb merkte sie es auch nicht, als Indigo sie allein ließ.
∗ Siebtes Kapitel ∗
Am ersten Sonntag nach ihrer Rückkehr nahm sie den Bus, um Abuelita im Silver-PinesSeniorenheim zu besuchen, wie sie es jeden Sonntag tat, mit oder ohne ihre Familie. Abuelita holte sie im Foyer ab, wartete auf der
harten, kleinen Bank nahe der Eingangstür, wo die Bewohner ihren Besuch in Empfang nehmen sollten. Sie trug ein ausgefranstes, altes geblümtes Kleid, das Joey schon als Kind geliebt hatte, uralte Strohsandalen und das schwarze Umschlagtuch, das sie sich bei jedem Wetter um die Schultern legte. Ihre breite Indianernase berührte Joeys Kinn, als sie einander in die Arme schlossen.
Die
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