Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
noch in ihrem »Northern Exposure«-T-Shirt, und träumte von winzigen Drachen und den diamantenförmigen Augen der Bach-Jalla.

∗ Sechstes Kapitel ∗
    Der einzige Mensch. dem sie davon erzählte, war John Papas. Am späten Nachmittag des nächsten Tages war sie im Laden, sortierte sorgsam Geigensaiten in einem Karton, wie er es ihr aufgetragen hatte, als sie aufblickte und
    ihn mit hängenden Schultern am Fenster stehen sah, durch das er auf die Straße starrte. »Dumm«, brummte er, viel mehr an sich selbst als an sie gerichtet. »Hast es verloren, dummer Papas.«
    Joey wollte gerade sagen: »Er wird schon wiederkommen«, doch dann biß sie sich auf die Zunge. Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie die Geigensaiten beiseite und ging zu einem der wenigen elektrischen Klaviere hinüber, die John Papas am Lager hatte. Sie sagte: »Mr. Papas, hören Sie mal kurz zu« und begann, aus der Erinnerung eine der Melodien zu spielen, die sie bei Einbruch der Dunkelheit im Abendrotwald am häufigsten gehört hatte.
    Das Arrangement war nur so dahin geworfen und stolperte ein wenig. Sie spielte es in der linken Hand beschämend dürftig, da sie nur erraten konnte, welche Harmonien aus Woodmont zu den Weisen und Rhythmen Shei’rahs passen mochten.
    Sie improvisierte fast die ganze Zeit, wobei ihre Hände beharrlich der Musik nachtapsten, an die sich ihr Herz erinnerte. Das ist ganz falsch, falsch, das ist Mist, du solltest dich was schämen. Dennoch nahm die unbeholfene Suche sie derartig gefangen, daß sie kein Gefühl mehr hatte, wie lange sie eigentlich schon spielte. Sie hörte erst auf, als sie die Augen aufschlug und sah, daß John Papas still vor sich hin weinte.
    Die Tränen von Erwachsenen waren Joey unendlich peinlich. Rasch stand sie auf und ging wieder an die Arbeit. Mit einem Kloß im Hals sagte John Papas: »Laß die Saiten, laß sie. Es wird Zeit, deine Sachen aufzuschreiben, Kindchen. Ich weiß nicht, woher du sie hast, aber wir müssen anfangen, sie aufzuschreiben. Heute ist – was? – Freitag. Wenn du morgen kommst, habe ich keine Reparaturen …«
    »Das ist nicht von mir, Mr. Papas«, sagte Joey. »Also, vielleicht ist es schon von mir, vielleicht ist es zum Teil von mir. Aber es ist wie die Musik, die dieser Junge Indigo gespielt hat, als er Ihnen dieses Horn verkaufen wollte.« John Papas’ Miene wurde ganz ausdruckslos und seltsam argwöhnisch. Joey sagte: »Es kommt von diesem anderen Ort… oder vielmehr aus dieser anderen Welt. Ein Land namens Shei’rah.«
    John Papas lauschte dem, was sie ihm zu erzählen hatte, ohne sie zu unterbrechen oder seine Haltung zu verändern. Als sie geendet hatte, brummte er und wandte sich ab, um sich eine alte Ventilposaune anzusehen, die am Morgen zur Reparatur gebracht worden war. Über die Schulter hinweg bemerkte er: »Ziemlich teurer Film, dein Traum, Josephine Angelina Rivera. Tausende von Statisten, die ganzen Spezialeffekte, wie heißt dein Regisseur? Du sagst mir Bescheid, wenn er in die Kinos kommt, ja?«
    Joey hatte nicht erwartet, daß John Papas ihrem Bericht von Einhörnern, Satyrn und fleischfressenden Flughirschen sofort und unbesehen Glauben schenken würde, doch ebensowenig hatte sie mit einer derart gleichgültigen und hämischen Abfuhr gerechnet. Empört rief sie mit lauter Stimme: »Es war kein Traum! Du meinst, ich wüßte nicht, wenn ich etwas geträumt habe? Ich war da, tagelang, wochenlang … ich war da! «
    John Papas murmelte etwas, was sie nicht verstehen konnte, beugte sich über die Posaune, wandte ihr den Rücken zu. Da schwappte eine Welle des Ärgers über Joey hinweg, und sie schrie ihn an: »Und Sie wissen, daß es stimmt! Sie wissen, woher diese Musik kommt, weil Sie Indigo schon kannten! Ich habe gleich gemerkt, daß Sie ihn kennen!«
    Langsam drehte sich John Papas zu ihr um. Er war ganz blaß, was seine schwarzen Augen größer als sonst erscheinen ließ, sie konnte sehen, wie die Haut unter seinem linken Auge zuckte. Leise sagte er: »Ich habe ihn an der Grenze getroffen.«
    Das plötzliche Geständnis raubte Joey die Sprache. »Die Grenze«, stammelte sie. »Sie haben die Grenze überschritten, Sie waren da? Sie waren in Shei’rah?«
    John Papas schüttelte den Kopf, lächelte tatsächlich ein wenig. »Nein. Es war Zufall. Ich habe deine Grenze gefunden … weißt du, wo ich sie gefunden habe? Am Ende vom Block, gleich gegenüber von Provotakis’ Laden. Genau gegenüber, eines Abends, vor etwa einem Jahr. Die

Weitere Kostenlose Bücher