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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Grenze.«
    »Sie bewegt sich«, sagte Joey. »Ich habe sie nicht mal bemerkt, nicht wirklich. Ich bin nur der Musik gefolgt.«
    »Der Musik gefolgt.« John Papas’ Lächeln verbreiterte sich ein wenig, was aber eher so wirkte, als ob er gequält das Gesicht verziehen würde. »Ich … ich habe keine Musik gehört. Wenn du sie spielst, wenn er spielt, höre ich sie gut. Ansonsten kann ich sie nicht hören, nicht auf der anderen Straßenseite, nicht auf der anderen Seite der Grenze.« Er schnaubte harsch und zupfte an seinem Schnauzbart. »Ich habe mit Provotakis Ouzo getrunken, das machen wir manchmal. Trinken, über alles mögliche reden. Dann sperrt er also zu, es ist ein oder zwei Uhr in der Früh. Ich bin mit Ouzo voll, ich komm’ nach draußen, da ist sie. Genau da. Praktisch direkt vor meiner Nase, sieht aus wie – was? – wie Regen. Wie eine Art elektrischer Regen.«
    Joey sagte: »Aber Sie sind nicht rübergegangen?«
    »Ich bin kein Kind«, sagte John Papas. »Nur ein betrunkener alter Mann. Ich stehe da und sehe mir’s an, mehr nicht, versuche zu verstehen, was ich da sehe. Nur kann ich nicht auf die andere Seite sehen, nicht ganz. Und dann. Dann das weiße Einhorn.«
    »Indigo«, stöhnte Joey. John Papas schien sie nicht gehört zu haben. Er sagte: »Weiß wie Salz, weiß wie Knochen. Stand direkt an der Grenze, die Vorderhufe klapperten schon auf der Straße in Woodmont, die Hinterhufe… Hinterhufe, wer weiß wo? Und er schaut mich an. Du weißt, wie das ist, wenn er einen anschaut.«
    »Ich weiß«, sagte Joey. »Ich weiß.«
    »Er hat mich gesehen«, sagte John Papas. »Ich selbst bin mir nicht sicher, ob ich ihn gesehen habe, aber er hat mich gesehen. Und wir reden.« Plötzlich lachte er aus vollem Herzen. »Ich, der alte Papas, der einen Ouzo zuviel hatte, redet die ganze Nacht mit einem weißen Einhorn. Was hältst du davon, Josephine Angelina Rivera?«
    »Worüber habt ihr geredet?« wollte Joey wissen. »Was hat das Einhorn Ihnen erzählt?«
    John Papas breitete die Arme aus. »Hat fast nur gefragt. Die ganze Nacht, hat Fragen zu dieser Welt gestellt… Leute, Länder, Sprachen, Geschichte, Geld. O ja, besonders Geld.« Er rieb sich die Stirn und zuckte bei der Erinnerung zusammen. »Als ich am nächsten Morgen aufwache, bringt mein Kopf mich um. Ich denke, es war ein Traum. Ein Einhorn in Los Angeles, vom Ouzo bekommt man solche Träume, weißt du? Und dann spaziert er in den Laden. Auf zwei Beinen kommt er herein, aber ich wußte es.«
    Plötzlich waren seine Augen wieder voller Tränen, doch gleichzeitig wackelte er unfreiwillig komisch mit dem Kopf. »Er will hier leben, kannst du das glauben? Will endgültig übersiedeln, menschlich aussehen, menschlich leben, sein Horn verkaufen, zum Teufel mit dem ganzen Einhornquatsch. Kannst du das glauben?«
    »Das kann er nicht«, sagte Joey. »Er kann es nicht, es wird nicht gehen, er muß sterben.« John Papas sah sie an. Joey sagte: »Ein Ältester, ein Einhorn, das sein Horn verliert, kann nicht nach Shei’rah zurück und muß hier sterben. Das weiß er.«
    »Na, da solltest du ihn vielleicht mal dran erinnern«, sagte John Papas leise. Er nickte über Joeys Schulter hinweg, woraufhin sie sich umwandte und sah, daß Indigo den Laden betrat, das silberblaue Horn sorglos in einer Hand. Obwohl sie wußte, was er war, staunte sie dennoch über die übermenschliche Anmut seiner Bewegungen – nein, nicht übermenschlich, eher, als wäre er stolz, daß er diese Gestalt annehmen kann und daß er absolut sein Bestes gibt. Wir sind es, die neben ihm nicht menschlich aussehen.
    »Ich dachte, Sie würden das Horn vielleicht gern noch mal sehen«, sagte Indigo. Er hielt es John Papas zur Prüfung hin. John Papas griff danach, dann verzog er bitter das Gesicht und ließ die Hände an die Seiten fallen. Er sagte: »Wo ist der Unterschied? Ich habe nicht mehr Gold als beim letzten Mal.«
    Ohne zu antworten, hob Indigo das Horn an den Mund. Ein schneller, kurzer Wirbel von Tönen taumelte durch den Laden, da, Liebesgrüße aus Shei’rah. Abrupt hörte er auf und reichte John Papas sein Horn.
    John Papas hielt das Horn, als hielte er ein Kind. Indigo betrachtete ihn, lächelte dünn. Keiner von ihnen sagte etwas. John Papas sah Indigo eine Weile an, dann ging er in seine Werkstatt. Joey sagte: »Ohne dein Horn wirst du sterben. Sinti hat es mir gesagt.«
    »Und was habe ich dir über den Lord Sinti gesagt? Welches Wort habe ich benutzt?« Indigos Lächeln

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