Die Sonate des Einhorns
deine Bücher. Jetzt geh nach Hause.«
»Es ist dieser Junge«, sagte Joey. »Indigo. Mit ihm hat die Musik angefangen. Mr. Papas, ich muß wissen …«
»Morgen«, sagte John Papas. »Vielleicht. Jetzt aber nach Hause.« Er stieß die Tür auf, scheuchte Joey hinaus, zog bereits die schmalen Jalousien herunter und drehte schon das Pappschild um, auf dem GESCHLOSSEN stand, als sie noch ihren Rucksack aufsetzte.
∗ Zweites Kapitel ∗
Es war der erste Tag im Monat, und deshalb war Abuelita zum Abendessen da. Sie aßen später als sonst, denn Mr. Rivera hatte nach der Arbeit einen riesigen Umweg ins Silver-Pines-Seniorenheim machen müssen, um Abuelita dort abzuholen. Sie
saß gegenüber von Joey am Tisch, klein und braun und makellos rund, das glatte, schwarze Haar inzwischen dünn, doch schimmernd wie eh und je, und jedesmal, wenn Joey sie ansah, erhob sich ihr Lächeln so langsam und vollkommen wie ein Sonnenaufgang.
Joey wußte nicht genau, wie alt ihre Großmutter eigentlich war – ihr Vater behauptete immer, Abuelita wüßte es selbst nicht–, und von Kindesbeinen an hatte sie sich nie vorstellen können, daß sie die Mutter ihres Vaters war. Dabei sahen sie sich nicht unähnlich, denn Mr. Rivera hatte schwarze Haare und gedrungene Finger und kleine, feine Ohren wie Abuelita; doch seinen Augen fehlte dieser kapriziöse und fremde Zug, er hatte keinen Schalk im Nacken. Als Joey noch ganz klein gewesen war, hatte sie immer in der Angst gelebt, daß Abuelita gar nicht zu ihrer Familie gehörte, sondern sie aus geheimnisvollen Beweggründen lediglich adoptiert hatte und irgendwann, wenn sie gerade Lust dazu hatte, wieder zu ihren richtigen Kindern und Enkelkindern zurückkehren könnte. Noch heute träumte sie manchmal davon.
In ihrem lauten Coahuila-Mexikanisch fragte Abuelita Joeys zehnjährigen Bruder Scott, der neben ihr saß, was er gerade in der Schule durchnahm. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, schob das Essen auf seinem Teller herum und sah seinen Vater an. Mr. Rivera antwortete für ihn auf englisch: »Er bekommt sehr gute Noten, Mama. Er ist in einer Hochbegabtenklasse, und er spielt Fußball. Wahrscheinlich schafft es seine Mannschaft dieses Jahr in die Endrunde.«
»Aber er kann kein Spanisch«, sagte Abuelita. »Mein Enkelsohn kann sich nicht in unserer Sprache mit mir unterhalten.« In ihrem Ton schwang nichts mit, was ungehalten, anklagend oder bedauernd gewesen wäre, dennoch färbte sich Mr. Riveras Gesicht rot.
Da mischte sich Joeys Mutter ein. »Mama, er hat dafür keine Zeit, er ist so mit der Schule und dem Sport und seinen Freunden beschäftigt. Außerdem, und das weißt du, hört er selten jemanden Spanisch sprechen.«
»In dieser Umgebung nicht«, stimmt ihr Abuelita freundlich zu. »Aber Fina spricht so gut wie ich.« Niemand außer Abuelita rief Joey bei ihrem Kosenamen aus Kindertagen.
»Damals hast du eben noch bei uns gewohnt«, sagte Mrs. Rivera. »Bevor wir umgezogen sind. Das waren andere Zeiten.«
Abuelita nickte. »Muy diferentes, las circunstancias.« Sie wandte sich wieder Scott zu, streichelte seine Hand und sprach so bedächtig Englisch mit ihm, als wäre er ein Ausländer. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, daß wir beiden diesen Sommer einen Ausflug nach Las Perlas unternehmen sollten. Wenn die Schule zu Ende ist, und zwar nur wir beide. Ein paar Monate in Las Perlas, und du wirst wie ein richtiger coahuileno aus Mexiko reden. Vielleicht kommst du sogar auf den Geschmack von menudo, von Kutteln, wer weiß?« Sie zwinkerte Joey zu.
Scott tappte wie immer in die Falle. »Menudo, wie eklig! Die Gedärme einer Kuh!« Er krümmte sich über seinem Teller, und einen Moment lang glaubte Joey, er würde sich tatsächlich übergeben. Er konnte sich auf Befehl oder – wie praktisch – wegen einer Wette übergeben. Abuelita sah ihn von der Seite an, und er setzte sich wieder gerade hin.
»Gilberto?« wandte sie sich fragend an Mr. Rivera. »Was hältst du denn davon? Vielleicht können wir alle zusammen nach Las Perlas fahren? Die Kinder sollten doch wissen, woher sie stammen, wo unsere Wurzeln sind. Ich möchte, daß wir alle nach Las Perlas gehen.«
Joey kannte den »Laß mich das machen«-Blick, den ihr Vater rasch ihrer Mutter zuwarf, ebenso gut wie den Ton, den er anschlug, wenn einer seiner Kollegen anrief. Er sagte: »Weißt du, Mama, ich bin mir gar nicht so sicher, ob es Las Perlas überhaupt noch gibt. Ich glaube, sie haben es einfach überbaut.
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