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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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Murph wird immer achtzehn sein, und er wird immer tot sein. Und ich werde mit einem Versprechen leben müssen, das ich nicht halten konnte.
    Ich hatte dieses Versprechen eigentlich nicht geben wollen. Doch an dem Tag, als Murph quer durch unsere Formation ging und sich in unserem Trupp neben mich stellte, zu mir aufsah und lächelte, geschah irgendetwas. Der Sonnenschein wurde von den Schneewehen reflektiert, und Murph kniff die Augen zusammen, und sie waren blau. Nach all den Jahren stelle ich mir vor, dass er mir, die Arme in Grundstellung hinter dem Rücken verschränkt, etwas sagen wollte, bilde mir im Rückblick ein, er hätte die wichtigsten Worte meines ganzen Lebens gesprochen. In Wahrheit fand ich ihn damals nicht sehr bemerkenswert. Er sagte lediglich: »Hi.« Er reichte mir nur bis zur Schulter, und so brachte Sergeant Sterling, unser neuer Zugführer, das Geflüster nicht mit Murph in Verbindung. Sondern mit mir. Er glotzte mich an, biss die Zähne zusammen und brüllte dann: »Was soll der scheiß Krach, Bartle? Wegtreten.« Das war alles. Trotzdem geschah irgendetwas. Ich begegnete Murph. Die Formation löste sich auf. Im Schatten der Kasernengebäude war es kalt.
    »Bartle. Murphy. Schiebt eure Ärsche rüber«, rief Sergeant Sterling.
    Sterling war uns zugeteilt worden, nachdem wir unseren Marschbefehl erhalten hatten. Er war schon im Irak gewesen, hatte an der ersten Angriffswelle teilgenommen, die von Kuwait aus nach Norden vorgestoßen war, und die Tatsache, dass man ihn ausgezeichnet hatte, nötigte sogar Vorgesetzten Respekt ab. Wir bewunderten ihn jedoch nicht nur wegen seiner Kriegserfahrung. Er war hart, aber gerecht, seine Kompetenz von gleichsam evolutionärer Schönheit. Seine Haltung unterschied sich auf eine kaum wahrnehmbare Art von der anderer Offiziere und Unteroffiziere. Wenn wir im Gelände übten, bewegte sich sein Oberkörper im Einklang mit der Waffe, fuhr vor dem Hintergrund der kahlen, verschneiten Laubbäume herum, und seine Beine trugen ihn zielgerichtet weiter, bis er auf einer Lichtung stehen blieb, auf ein Knie sank. Er hatte eine besondere Art, den Helm von den kurzen, blonden Haaren zu ziehen, während seine blauen Augen das Unterholz am Waldrand absuchten. Er horchte, und wir warteten, der ganze Zug, bis er einen Entschluss gefasst hatte. Wir vertrauten ihm, wenn er die Richtung vorgab und uns zum Weitergehen aufforderte. Wir folgten ihm bereitwillig, wohin er uns auch führte.
    Murph und ich gingen zu Sterling, blieben in Grundstellung stehen. »Na gut, kleiner Mann«, sagte er. »Ich will, dass Sie in Bartles Gesäßtasche kriechen, und ich will, dass Sie dort bleiben. Kapiert?«
    Murph sah mich an. Ich versuchte, ihm durch meine Miene zu signalisieren, dass er Sergeant Sterling möglichst rasch antworten solle. Doch er schwieg. Sterling gab ihm einen Klaps gegen den Kopf, wodurch sein Schiffchen abflog und zwischen den vom Dezemberwind angehäuften Schneewehen landete.
    »Roger, Sergeant«, sagte ich und zog Murph zum Eingang des Kasernengebäudes, wo ein paar Leute aus dem zweiten Zug rauchten. Bevor wir die Tür erreicht hatten, rief Sterling uns nach: »Ihr habt doch nur Scheiße im Hirn. Das müsst ihr langsam mal klarkriegen, Jungs.«
    Als wir in der Tür standen, blickten wir uns nach ihm um. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt, das Gesicht zum Himmel erhoben. Seine Augen waren geschlossen. Es wurde langsam dunkel, doch er rührte sich nicht vom Fleck, wartete ab, als glaubte er, einen Schatten herbeizaubern zu können, der den Abend ankündigte.
    Murph und ich gingen auf unsere Acht-Mann-Stube im zweiten Stock der Bataillonskaserne, und ich schloss die Tür. Alle anderen hatten Ausgang und trieben sich irgendwo in der Basis herum. Wir waren allein. »Hast du Bett und Spind?«, fragte ich.
    »Ja«, sagte er. »Weiter hinten im Flur.«
    »Hol deinen Kram und such dir was in meiner Nähe.«
    Er schlurfte aus dem Raum. Während ich auf ihn wartete, überlegte ich, was ich ihm erzählen sollte. Ich war schon einige Jahre in der Army. Es war eine ganz gute Zeit gewesen, die Army bot mir die Möglichkeit, abzutauchen. Ich muckte nicht auf und tat, was man mir auftrug. Niemand erwartete viel von mir, und ich verlangte wenig. Ich hatte so gut wie nie einen Gedanken an einen Kriegseinsatz verschwendet, und nun, da er kurz bevorstand, suchte ich vergeblich nach einem Gefühl innerer Dringlichkeit, das den Ereignissen entsprach, die sich in meinem Leben zu

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