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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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Grundausbildung zeigen, als er noch ein paar Pickel auf dem Kinn gehabt hatte, ein Anblick, der endgültig der Vergangenheit angehörte.
    Ich holte meinen Poncho aus dem Rucksack und deckte ihn zu, denn ich ertrug seinen Anblick nicht länger. Die meisten von uns hatten den Tod in vielerlei Gestalten gesehen: die glitschige Schweinerei nach einem Selbstmordattentat, enthauptete Körper in einem Graben wie eine Sammlung kaputter Puppen auf dem Regal eines Kindes, manchmal sogar unsere eigenen Jungs, blutend und weinend, weil das Fluggeräusch ihnen verriet, dass der Hubschrauber dreißig Sekunden zu spät kommen würde. Aber so etwas hatten wir noch nie gesehen.
    »Was machen wir mit ihm?«, fragte ich, ohne die Dimension dessen zu begreifen, was ich damit andeutete. Ich glaubte zunächst, die Entscheidung würde bei uns liegen. Ich bildete mir ein, zwei junge Männer, der eine einundzwanzig, der andere vierundzwanzig, würden entscheiden, was mit der Leiche dieses Achtzehnjährigen geschehen sollte, der im Dienst des Vaterlandes in einem unbekannten Winkel dieser Erde abgeschlachtet worden war.
    Wenn wir ihn zurückbrächten, würde man uns befragen, das war uns klar. Wer hat ihn gefunden? Wie sah er aus? Was ist passiert?
    »Scheiße, Kleiner. Du hättest nicht einfach abhauen dürfen«, sagte Sterling zu dem vor seinen Füßen liegenden Toten. Er ließ sich in das Gras sinken, nahm den Helm ab.
    Ich setzte mich neben Murph, begann zu zittern, wiegte mich hin und her.
    »Sie wissen, was zu tun ist.«
    »Aber nicht so, Sarge.«
    »Wir müssen es tun. Egal, wie. Sie wissen doch, wie die Scheiße läuft, Bart.«
    »Dann wäre am Ende alles noch schlimmer.«
    »Ist nicht unsere Entscheidung. Die liegt ein paar Gehaltsklassen höher.«
    »Vertrauen Sie mir, Sarge. Wir dürfen das nicht zulassen.«
    Wir wussten beide, was »das« bedeutete. Das Leben hat nur wenige wahre Geheimnisse zu bieten. Man würde die Leiche nach Kuwait ausfliegen. Dort würde man sie so gut wie möglich herrichten und konservieren. Sie würde in einer von vielen schlichten Metallkisten in ein Flugzeug verladen werden, das zum Tanken in Deutschland zwischenlanden und nach Dover weiterfliegen würde. Dort würde man den Toten mit einer Flagge und dem warmen Dank der Nation empfangen, und seine Mutter würde in einem schwachen Moment den Deckel heben und sehen, was man ihrem Sohn, Daniel Murphy, angetan hatte, und danach würde man ihn beerdigen, und alle würden ihn vergessen, nur seine Mutter, in den Appalachen allein in ihrem Schaukelstuhl sitzend, würde jeden Abend an ihn denken, sie würde verwahrlosen, sich nicht mehr waschen, nicht mehr schlafen, und die Asche ihrer Zigaretten würde immer länger werden und zwischen ihren Füßen auf den Boden rieseln. Und wir beide – auch wir würden an ihn denken, weil es in unserer Macht gelegen hätte, all das zu verhindern.
    Sterling erhob sich, lief auf und ab. »Lassen Sie uns kurz nachdenken«, sagte er. »Ich muss eine rauchen.«
    Ich gab ihm eine Zigarette, zündete mir auch eine an. Meine Hände zitterten, und der Wind blies das Feuerzeug mehrmals aus, wehte den Poncho hoch und entblößte, was von Murphs Gesicht übrig war. Sterling starrte die leeren Augenhöhlen an. Ich zog den Poncho wieder darüber. Minute um Minute verstrich. Ein paar Vögel flogen zwitschernd in das Dickicht und wieder heraus. Das Rauschen des Flusses war immer deutlicher zu hören.
    »Wehe, wenn Ihre Entscheidung falsch ist.«
    Ich konnte nicht mehr denken. Ich hätte am liebsten alles rückgängig gemacht. »Es ist zum Kotzen, Sarge.«
    »Immer mit der Ruhe, Mann. Ganz ruhig bleiben, okay?«, sagte er und dachte kurz nach. »Gut, wir tun Folgendes: Sie funken den Dolmetscher an – er soll den Haddschi mit seinem Karren schicken. Sagen Sie ihm, dass wir Murph nicht gefunden haben.«
    Ich schwieg eine Weile, versuchte, mich zu sammeln. Sterling fuhr fort: »Wir müssen es so aussehen lassen, als wäre nie etwas passiert. Sie wissen, was das heißt?«
    »Ja, weiß ich.«
    »Ganz sicher?«
    »Ja, ganz sicher.«
    Wir warteten. Friede breitete sich zwischen uns aus. Die Sonne ließ die ganze Welt zu einer Abstraktion aus Farben und Formen verschwimmen. Alles, was wir nicht direkt in den Blick nahmen, war wie verwischt. Wir sahen den Alten kommen, er gab dem Maultier sanfte Klapse auf die Kruppe. Er ging langsam, denn die Hitze war groß, und wir sahen nur ihn und das Maultier klar und deutlich, beide traten aus einer

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