Die Sonnenposition (German Edition)
ein Schwappen auf seinem Tiefpunkt, ohne Gelassenheit.
Ich halte mich an die Asphaltbahn, die immer noch schimmert, Streulicht zurückstrahlt, durch den schwarzen Waldblock eine Bresche schlägt. In diesem Block knackt und schnauft es, die Wildschweine zerwühlen Moospolster, galoppieren ins dichtere Holz, der Waldblock wogt unter einem beständigen Wind,und obwohl die Wolkendecke alle Geräusche dämpft, ist diese Nacht laut. Ich höre jeden Schritt der Schweine, ich rieche ihren Kot, ich rieche ihre schwartige, dichtbehaarte Haut, sie scheinen immer ein Stück vor mir zu trotten wie eine Schafherde vor ihrem Hirten, eine negative Schafherde, unsichtbar.
Den Wagen vernehme ich erst, als er schon da ist. Die Scheinwerfer kommen aufgeblendet auf mich zu, winzig erst, dann wachsen sie, dehnen sich zu einem Gleißen, das mir jede Sicht nimmt. Ich stolpere am Rand der Straße, das Asphaltband läßt sich nicht mehr unterscheiden vom Wald, die Dunkelheit ist jetzt vollkommen geworden, und ich laufe wie unter einem Bann auf das Gleißen zu, ein geblendetes Tier, dem das Licht die einzige Orientierung ist in einem schwarzen, raumlosen Raum, ich laufe mit plötzlicher Leichtigkeit, verantwortungslos euphorisch, hingerissen, fasziniert, auf ein Ziel zu, auf den Mittelpunkt der Nacht. Ich laufe mit blinden, aufgerissenen Augen zu den Lichtstrahlen eines mechanischen Monsters, von dem ich mir für Sekunden wünsche, daß es mich sieht. Katze, die sich, hypnotisiert, nicht weiterbewegt, Reh, das eine Geschwindigkeit falsch einschätzt – ich reiße mich zusammen, weiche zur Seite aus, die Nacht schluckt mich, und der Fahrer scheint mich nicht bemerkt zu haben, er verringert das Tempo nicht, die rotäugige Rückseite wird kleiner, grinst, verschwindet.
Trotz der Dunkelheit erkenne ich den Baum von weitem. Jemand hat Holzlatten an den Stamm genagelt, Trittstufen. Oben liegt ein Brett quer. Ich öffne den Druckknopf meines Regenschutzes, hole Atem, hangele mich hoch. Ein improvisierter Jagdsitz, im Sommer von Buschwerk verborgen. Ein gefälschter Jagdsitz, der wohl aus der Zeit militärischer Übungen stammen mag, denn so dicht an der Straße ist solch eine Einrichtung für die Jagd auf die Tiere des Waldes nicht zweckdienlich.Ich erreiche das Brett und richte mich auf. Plötzlich kann ich die Fahrbahn vollständig überblicken. Sie ist leer.
Zufahrt zum Truppenübungsplatz. Hinterm Zaun Sanddünen, Wanderdünen, Tellerminen. Blindgänger der Übungsmanöver von Jahrzehnten verrosten in freier Natur, gelegentlich geht einer hoch, scheucht Kolonien von Zugvögeln auf, die hier Zwischenhalt einlegen. Seltene Brutvögel: der Ziegenmelker.
Die russische Armee ist abgezogen, ein bekannter Autohersteller nutzt das Areal als Testgelände. Wichtigste Regel: die provisorischen Fahrstrecken niemals verlassen.
Das Licht kriecht heran, begleitet von Motorenbrummen. Das Geräusch nähert sich, ich kann eine Silhouette erahnen, der Motor heult auf, ein Trabant.
Ansitzjagd: Ich sitze auf dem harten Brett und lehne mich an den Baumstamm. Noch bleibt das Laub in sich verschlossen, erst einzelne Knospen haben sich geöffnet und winzig gefältelte Blätter freigegeben, Blätter, die noch kaum Raum bilden. Ich spüre die Unebenheiten der Rinde im Rücken und bemühe mich, mit dem Baum zu verschmelzen, wie es dem Dichter Rilke einmal gelungen war. Er hatte es geschafft, auf die andere Seite der Natur zu geraten, ich aber werde abgelenkt. Mein Regenmantel hakt an der Rinde fest, ich reiße an ihm.
Ich schließe die Augen und höre den Wind, der Holz gegen Holz schlägt. Ich sehe ein Trauergerüst, erhaben, pompös, das Odilos Leben abschließen soll. Im Wind enthüllt sich unter dem Samt ein rohes Gestell, Wappen klappern gegen das Gestänge. Wind rüttelt an bemalter Leinwand, an den Ruhmesdarstellungen auf stuckiertem Karton, an den falschen Säulen, den Gipsputten, Wind verzerrt die Landschaft auf der Stoffbahn, der stetige Regen verdirbt die Farbe, läßt die Siegesengelherabtropfen. Die ausgesägten Helme, als Trompe-l’œil koloriert, mit Metallanmutung versehen, poltern über die Äste und enthüllen ihre Rückseite, Sperrholz, flach. Castrum doloris? Ich weine nicht.
Noch immer ist die Nacht lang. Die ersten Schläfer verlassen ihre Betten, fahren geschlossenen Auges zur Arbeit. Nudelsiebe, mit denen sie schürfen, Seihen, in denen sie Gold waschen an den Kloaken der Ortsausgänge. Ungleiche Paare: Lateinschüler und Bademeister.
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