Die Sonnenposition (German Edition)
Lottoannahmestelle und Bäckerblau. Schiefe Bilder, geradegerückt. Ein gewaltiges Verlangen nach Glück, statt dessen Hunger, Fett und Geräuscharmut, statt dessen Bemühungen um ein ordentliches Frühstück für die Kinder, statt dessen ein Antimykotikum gegen die Fliegenpilze am Himmel. Hadern, zagen, zaudern, zweifeln – was aber wahr war, gilt nimmermehr. Und wenn doch. Was hülfe uns das.
11 Spiegelsaal
Die Gesichter treten weiß hervor, sie blinzeln erschreckt ins Grelle, Gesichter in einem durchleuchteten Wald. Harte Schattenbalken stauchen die Mienen zu schiefen Monden zusammen. Jedes Antlitz ist, neben der vollkommenen Überraschung, von einer vorherrschenden Emotion geprägt, Freude, Angst oder Zorn, Unsicherheit, es sind keine harmonischen Züge, man sieht Auffälligkeiten, Symptome.
Im Gang vor dem Spiegelsaal hängt eine Reihe Brustbilder, bei denen niemand mehr weiß, wer die Dargestellten sind. Vielleicht wußte man es nie. Sie sehen nicht aus wie höherrangige Persönlichkeiten, nicht wie Schloßbewohner, sie sind fahrig gemalt, etwas ungelenk, vielleicht Studien für Historienbilder. Studien des Gewöhnlichen, der breiten Masse? Ihre Schönheit ist unspezifisch, sie zeigen den Reiz des Unbekannten, das Gegenteil eines Porträts.
Auf dem Weg zum Therapieraum komme ich an diesen Gemälden vorbei, ich bin in Eile, sie schneiden mir Fratzen.
Viele Patienten, zumindest diejenigen, die schon eine Anstaltskarriere hinter sich haben, erleben unsere Klinik als Kurhotel. Wir verfolgen einen Ansatz relativer Offenheit, relativer Partnerschaftlichkeit, wir führen die Reformen aus, die in den sechziger Jahren beschlossen wurden, besser spät, heißt es, als nie.
Die Moskauer Psychiatrie, die Leningrader Psychiatrie. Die Berliner Psychiatrie, die Leipziger Psychiatrie. Die Leipziger Psychiatrie galt als fortschrittlich, die Berliner Psychiatrie alseisern. Leipzig setzte die Rodewischer Thesen um, verwirklichte Ansätze der Sozialpsychiatrie. Reformkurs, das hieß: offene Stationen, Clubabende. Entfernung der Fenstergitter, Integration der Patienten in ein soziales Netz, Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß. Eine Aufgabe ist wichtig, Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl. Stützt das gekränkte, zerrüttete Ich.
Berlin internierte, sperrte weg. Zunächst gab es auch hier Reformen, schien es Reformen zu geben, die sich sofort in wieder zurückgenommene Reformen wandelten. Innerlichkeiten, die an den Äußerlichkeiten scheiterten. Innen Regulation der Körpergewalten durch Medikamentengabe. Revolution durch Sedativa. Gitterstäbe nach innen verlegt, ganz nach innen, ins Innerste. Außen verwunschene kleine Schlösser mit romantischen Parkanlagen, mit Blütenpracht und Blätterfall je nach Jahreszeit. Verwunschene kleine Schlösser, in denen die Menschen verschwanden.
Ähnliche Verhältnisse herrschten in der Sowjetunion. Die Leningrader Psychiatrie versuchte eine Öffnung, die Moskauer befürwortete Geschlossenheit. Geschlossenheit und Offenheit, relativ. Schulenstreit konnte man es unter den gegebenen Bedingungen nicht nennen, eher um einige weniger gut beaufsichtigte Gebiete in einem insgesamt besser beaufsichtigten Reich.
Wichtig war, daß die Patienten nicht auffielen, auch und vor allem die reformierten nicht. Am 1. Mai, auch am 7. Oktober, am 15. Januar, wenn die Paraden stattfanden, herrschte ein landesweites Ausgangsverbot. Psychiatrische Patienten, die es eigentlich in diesem Land nicht geben konnte, hatten aus dem offiziellen Straßenbild zu verschwinden. Von Menschen, die es eigentlich nicht gab, durfte eine Parade niemals gestört werden.
Verwahrpsychiatrie – Sozialpsychiatrie: eine Frage des Geldes. Wieviel Verrücktheit kann eine Gesellschaft sich leisten. Die Übergangslösungen sind immer die teuersten.
Immerhin – in diesem einen Bereich, dem sozialpsychiatrischen Ansatz, hinkte der Westen hinterher. Sperrte man sich schon allein deshalb dagegen, weil er im Osten funktionierte? Zu funktionieren schien? Und wenn die im Osten schon weiter waren – wollte man dann überhaupt ebenfalls dorthin?
Kurhotel – ich persönlich erlebe es nicht so. Seit meinem Eintritt in die Klinik als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, einem Eintritt, der ja erst wenige Monate zurückliegt, fühle ich mich durch den partnerschaftlichen Ansatz zunehmend irritiert. Es ist nicht üblich, hier den weißen Kittel zu tragen, ich habe damit wieder angefangen, wenn auch nur nachts. Dies hat damit zu
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