Die Sonnenposition (German Edition)
tun, daß ich, wenn auch nur vorübergehend, für eine Übergangszeit, wie es hieß, auf dem Klinikgelände wohne. Die Übergangslösungen sind immer die teuersten. Mir fehlt der Abstand. Ich sehe die Patienten während meines gesamten Arbeitstages, es widerstrebt mir, die Mahlzeiten gemeinsam mit ihnen einzunehmen, ihnen auch dann zu begegnen, wenn für mich die sogenannte Freizeit beginnt.
Frau Dr. Z., meine Chefin, hat mir bei Tisch erzählt, daß sie früher den Eßbereich der Patienten vom Eßbereich der Ärzte mit einer roten Museumskordel abzutrennen pflegten. Patienten, die sich durch Wohlverhalten auszeichneten, durch Arbeitsfähigkeit und die Übernahme von Verantwortung, stiegen in der Hierarchie auf. Sie durften neue, also untergebene Patienten anleiten, die Unselbständigen betreuen, manche Angelegenheit der Hilfloseren regeln, bekamen zu solchem Behuf den weißen Kittel, Quasipfleger. Zur Unterscheidung die rote Kordel im Raum.
Wie froh sie sei, so Frau Dr. Z., daß wir dergleichen nun nicht mehr nötig hätten.
Wir haben es, so dachte ich zu Frau Dr. Z. hin, nicht mehr nötig, weil wir die Unterschiede nun durch Körperhaltung,Ausstrahlung, selbstbewußtes Auftreten demonstrieren. Natürliche Autorität: Solche Signale, die Vertrauen, aber auch Abstand schaffen, gehören jetzt zum Anforderungsprofil meines Berufs, während früher noch eine rote Kordel genügte.
Ich stelle fest: Verlust meiner professionellen Distanz. Verlust der leicht zynischen Kühle, mit der man sich vor dem Patienten schützt, und umgekehrt auch den Patienten vor sich. Ich bemerke: starkes Schwitzen vor allem an Händen und Füßen. Mich in den Details verlieren. Keine rasche Einordnung mehr treffen. Verkomplizieren. Verheerende Komplizenschaft.
Wir haben es hier vor allem mit Wendeopfern zu tun. Einige Patienten mit Westbiographie, vorwiegend aus Berlin, außerdem einzelne Berliner, die sofort nach der Wiedervereinigung ins Umland gezogen und dort verrückt geworden sind, wurden aus Kostengründen zu uns verlegt. Einige Langzeitpatienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die noch von Stasispitzeln in den Gruppentherapierunden zu berichten wissen, sind zu uns gekommen. Den größeren Teil der Fälle aber machen die Wendeopfer aus. Sie leiden unter dem Zusammenbruch der Solidarität, unter der Gleichgültigkeit, dem Verpuffen von Sinn. Der Familienvater, bislang unauffällig und anspruchslos, der sich plötzlich seinen Jugendtraum erfüllen kann und alle Ersparnisse für eine Cessna ausgibt. Er ruiniert sich, die Ehe zerbricht. Der Republikflüchter, der immer nur rauswollte, den sie andauernd aufgriffen in Prag, in Budapest, der immer nur wegwollte und jetzt nicht weiß, wohin.
Viele Manien mit Kaufrausch. Viele Suizidversuche, weil eine ganze Welt verschwunden ist.
Jede klare und feste zwischenmenschliche Beziehung wirkt beruhigend und entspannend. So Bleuler in meinem alten psychiatrischen Lehrbuch. Mit Großmut, Geduld, Festigkeit und Feingefühl gibt der Arzt dem Menschen in Krise und Notdie Möglichkeit, sich an ihn anzulehnen, sich seiner Stärke, seinem Schutze anzuvertrauen, so Bleuler, sinngemäß. Die Wendeopfer, scheint mir, schlagen diese Möglichkeit aus, sie betrachten mich als Okkupator, Invasor, als Bourgeois, sie geben mir die Schuld an ihrer Lage, sinngemäß.
Ich schließe das Therapiezimmer auf und werfe aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Fratzen im Gang. Sie blicken zurück. Sie wenden sich ab, sie kichern, bewegte Schatten an der Höhlenwand. Erkenne dich selbst: Im Therapiezimmer sind die Wände in einem hellen Senfgelb gestrichen, keine Bilder. Lenin ist abgehängt, im Keller. Man hat ihn, für alle Fälle, nicht weggeworfen. Uns bleibt die Unähnlichkeit. Bleiche Gesichter starren in die Düsternis im Korridor, wo Patienten auf harten Stühlen warten, daß ihre Therapiestunde beginnt. Sie betrachten die Bildnisse von Fremden und suchen sich darin wiederzufinden, täglich aufs neue.
Zum therapeutischen Gespräch bin ich nicht verspätet, jedoch auch nicht so frühzeitig wie sonst. Ich lege gemeinhin Wert darauf, eine Weile vor dem Patienten im Therapiezimmer einzutreffen, es in Besitz zu nehmen, die Schreibtischutensilien zu ordnen, selbst dann, wenn es in Ordnungsbelangen kaum etwas zu tun gibt. Die Papiere liegen auf Kante, ich suche in den Schubladen nach einem Stift. Meine Stifte verschwinden von diesem Schreibtisch in erschreckender Anzahl, sie verschwinden im Raum des
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