Die Sonnenposition (German Edition)
Klebstoff auf. Im Verein empfahl man ihm Klarlack, zur Not auch, etwas unangemessen für Holzarbeiten, eine dünne Klarsichtfolie, mit der er die Höhle auskleiden sollte. Allerdings war man im Verein der Meinung, eine Höhle nachzubauen widerspreche letztlich der Satzung, sie sei kein Gebäude und für Streichholzkonstruktionen demnach ungeeignet.
Er entschied sich für Klarsichtfolie, die er innen an die Wölbung klebte, sie lag dicht an, als wäre es Feuchtigkeit. Er stellte kleine Scheinwerfer auf, die markante Stalaktiten beleuchteten, und wünschte sich zum ersten Mal, selbst in einem der Objekte, die er gebaut hatte, wohnen zu können. In der Tropfsteinhöhle gab es neben dem See eine Mulde, in der er sichschlafen legen würde. Ein Steinblock war annähernd tischförmig. Er käme zurecht. Und er würde das unvergleichliche Geräusch des Tropfens hören – für einen Moment zögerte er, denn er erinnerte sich, daß er Folie benutzt hatte. Aber für das Tropfgeräusch ließen sich Mittel und Wege finden. Es gelang ihm, einen Zimmerspringbrunnen umzubauen und das Wasserplätschern auf ein unregelmäßiges Tropfen zu reduzieren.
Am Tag nachdem er die Höhle fertiggestellt hatte, versuchte er zu schrumpfen, um sich dort einquartieren zu können. Er kaufte eine kleine Plastikfigur, die ihn vorläufig ersetzte und an seiner Statt in einem winzigen Schlafsack in der Mulde übernachtete. Friedhelm Gehrken schränkte seine Nahrungsaufnahme ein. Er verkürzte durch eine spezielle Faltung sein Bettuch, so daß er sich, während er schlief, sehr klein machen mußte. Schon nach wenigen Tagen gab er das Schrumpfvorhaben auf. Er beschloß, die Höhle zu vergrößern. Er wünschte sich einen Höhlensee mit ausreichender Tiefe, um dort Feenkrebse anzusiedeln. Das Schlafzimmer sollte ihn beherbergen, mit allem Drumherum. Er ging morgens mit dem Hund und machte sich dann an die Arbeit.
Beängstigend bei der großen Version war das Fehlen von geraden Kanten, von harmonischen Proportionen. Es fiel ihm schwer, den richtigen Maßstab einzuhalten. Manchmal kam ihm die Befürchtung, daß ihm das Projekt entglitt. Trotzig berichtete er von seinem Plan im Verein. Die anderen Mitglieder rieten ihm ab. Willst du nicht lieber eine Kontaktanzeige aufgeben, bat man im Verein. Aber er wollte nicht. Er wollte die Höhle. Bei einer größeren Höhle, hieß es dann, benötige er anderes Material, keine Streichhölzer. Keine Streichhölzer – das kam praktisch einem Vereinsausschluß gleich. Er fühlte sich unverstanden und beharrte auf Streichhölzern. Über den Kiosk an der Ecke bestellte er ein größeres Kontingent. Abends zog er durch die Gaststätten und leerte die Aschenbecher. Errauchte auch selbst wieder mehr. Der Verein unterstützte ihn nicht länger. Prompt nannte er den Verein spießig, rückwärtsgewandt und banal, wahrer Kunst nicht aufgeschlossen. Morgens ging er mit dem Hund, wenn er zurückkam, roch es im ganzen Haus nach Kleber und Zigarettenrauch. Der Zimmerspringbrunnen tropfte. Die Ersatzfigur, die nachts in diesem Tropfen einschlief, war zu beneiden. Eines Morgens fand er sie mit abgerissenem Kopf.
Theorie des Ortes
Der Ort ist für denkende Menschen die reine Provokation. Zwar mag man mittels Landkarten und Wegweisern dem Impuls der Ortsbestimmung nachgeben wollen, zwar mag man sich in seinen Bemühungen dadurch bestätigt fühlen, daß man imstande ist, Treffpunkte zu vereinbaren und sich also in der Raumzeit auf Verabredung hin zu begegnen, dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Ort selbst bloße Relation ist. Der auf der Landkarte markierte Punkt bewegt sich schlingernd durchs Weltall. Er verändert sich im Laufe der Zeit. Und selbst wenn sein jeweiliger Aufenthalt in Bezug zur Sonne berechenbar sein mag, bleibt die Verortung des Ichs an diesem Punkte fragwürdig. Wo bin ich, wenn ich mich an einen anderen Ort (vorzugsweise jenen der Kindheit) erinnere? Wo ist der Ort, an den ich mich zurückziehe, wenn ich schlafe? Der seelische Raum erweitert sich in den Nächten zum Kosmos, während das damit einhergehende persönliche Gefühl suggeriert, das Traumleben fände in einem wie auch immer gearteten Inneren statt, nämlich in mir. Die Eigenschaftslosigkeit und Unbeschreiblichkeit dieses intimsten Ortes enthalten sein utopisches Potential, seine Negationskraft, seine Größe, die darin besteht, Nicht-Ort zu sein: nicht festzulegen, gleichwohl ekstatisch, hypnotisch in seiner Rotation, Hohlraum und
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