Die Sonnenposition (German Edition)
Gegenteil war sie imstande, Interesse zu wecken, für biologische Vorgänge, für molekulare Strukturen, wer konnte das schon. Sie erschien jeden Morgen gut gekleidet, aber sie provozierte nicht mit Eitelkeit. Melinda Aberberg war einmal gutaussehend gewesen, bevor die Zerrüttung begonnen hatte und ihr Gesicht vor der Zeit altern ließ. Sie empfand ihren Körper nicht als Problem. Und das wichtigste: Sie mochte die Schüler, ohne sich an sie zu klammern, sie verhielt sich zu ihnen fair, sie behandelte sie mit ausreichend distanzierter Freundlichkeit. Dennoch hatte jede Klasse schon nach der ersten Stunde im neuen Schuljahr die Achtung vor ihr verloren. Anfangs war es immer nur einer, der Klassenclown, der Rebell, der in den ersten zehn Minuten testete, wie weit er gehen konnte, dazwischenrief, herumalberte, dann zogen die anderen mit, ziemlich schnell war ein Zustand erreicht, der ernsthaften Unterricht unmöglich machte.
Sie betrat eine Klasse, schrieb etwas an die Tafel, drehte sich zu den Schülern um und wischte sich die Kreidehand an der Hosennaht ab. Kreideflecken auf eleganten dunklen Hosen: ein Fauxpas, den keine Klasse verzieh.
Sie sind da schmutzig, sagte der Rebell und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihren Unterleib. Sie schürzte mit gespielter Empörung einmal kurz die Lippen, wandte sich wieder zurTafel. Für die Nöte pubertierender Jugendlicher brachte sie durchaus Verständnis auf. Sie wußte weit mehr über die Auswirkungen von Testosteron als diese, sie sah sich nicht persönlich angegriffen, versuchte es mit Lässigkeit und Toleranz.
Der Körper des Lehrers ist ein symbolischer Körper, er muß um jeden Preis intakt bleiben, sonst gerät das Gefüge der Klasse aus dem Gleichgewicht. In der hintersten Bank begann man zu tuscheln, kurz darauf Papierkügelchen zu werfen, bald auch das Papier zu kauen und gut bespeichelt durch die Röhrchen von Filzstiften nach vorn zu schießen. Manche blieben an der Lehrerhose haften. Sie wischte sie ohne Aufhebens weg, mit kreidiger Hand, machte alles noch schlimmer. Die Klasse bemühte sich fortan nach Kräften, alle Schuld an der Besudelung auf sich zu nehmen. Sie lud sich den Status eines Verursachers auf, weil dann die Scheußlichkeiten, der Dreck, die Peinlichkeit von außen, nicht von innen kamen, weil damit der Lehrerkörper gerettet war. Die Klasse schickte Spucke auf Papierträgern nach vorn, warf mit Apfelresten und Getränketüten, spritzte mit Wasserpistolen die Schulmilch an die Tafel.
Melinda Aberberg konnte nichts tun. Ihre Körpersprache verriet keine Schüchternheit, sie sprach gut und klar und mit angenehmer, nicht zu hoher Stimme, sie wußte nicht, was die Schüler witterten und wie. In den Pausen, wenn sie Aufsicht hatte, hielt sie sich an ihrer Kaffeetasse fest. Nach den Pausen fand man ihre Tassen im Gang oder draußen auf einer Bank, immer wieder ihre Tassen, zerstreut irgendwo abgestellt, mit einem Lippenstiftrand versehen, innen einem Kaffeering. Die Klassen fühlten sich provoziert. Ihre Angst nahm zu. Die Schüler versuchten, dieser Angst eine Grundlage zu verschaffen.
Sie hatte mit dem großen Lineal eine Tabelle an die Tafel gezeichnet. Dann schulterte sie locker, ein wenig übermütig, ein wenig selbstironisch, das Lineal und begann die Tabelle zu erklären. Der Rebell, der Klassenclown rasteten aus. Wogegenverteidigte sie sich? Welchen Anlaß konnte man jetzt bieten, welchen Angriff liefern, um rückwirkend solch eine Geste wiedergutzumachen? Sie redeten laut, lachten kreischend, das Lineal knallte vor ihnen auf den Tisch. Der Rebell packte das Holz, riß es zu sich, Melinda Aberberg ließ es nicht los. Der Klassenclown half ihm, die Lehrerin verlor das Gleichgewicht, lag hilflos am Boden, sie stürzten sich auf sie, die Lehrerin schrie. Der Rebell, von Entsetzen gepackt, hielt sich die Ohren zu, aber es hörte nicht auf, wütende Verzweiflung schüttelte ihn, und er fegte die Kreidestücke aus dem Behälter, stopfte sie in den rotbemalten Mund, aus dem der Schrei kam, stopfte zerbrochene Kreidestücke in den Lehrkörper, daß dieser endlich verstummte.
Gefahren des Realismus
Katja Wonderblom hatte an die aufgehende Sonne geglaubt und auf die Zukunft hingearbeitet. Sie war als Jockey in Hoppegarten geritten. Galopprennen, Sport, immer schneller ins Ziel. Jeder Sieg war nur ein Teilsieg, eine Etappe zum nächsten, und der endgültige Sieg lag in der Ferne des Morgen. Vielleicht würde eine andere erst diese bessere Zukunft
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