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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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gewaschen, abgetrocknet und mir wieder mitgegeben. Ich schleppe den Sack über den Hof, ich schleiche ins Gartenhaus, schütte die Früchte um die Kübel der Zitrusbäumchen, und als ich die Tür schließe und verschwinde, herrscht Nacht.

III Memoria

16 Gewittertiere
    Wo der Blick nicht hindringt, füllt sich das Dunkel mit Vorstellungen. Nachts erinnere ich mich an Anfänge. Die Bilder kommen, sobald es dunkel wird und ich mich anschicke zu schlafen. Es ist wie ein Zwang. Sie bedrängen mich, halten mich wach. Ich erinnere mich an Odilos Zeit mit meiner Schwester, und was mich erstaunt, ist das Gefühl der Evidenz.
    Mila und Odilo: Ich sehe sie vor mir, als wäre ich dabeigewesen. Was, frage ich mich nachts in meiner Funktion als Seelenkundler, suche ich damit zu bezwecken? Sind es Maßnahmen, den Zeitverlauf zurückzudrehen, indem ich versuche, meinen Freund heraufzubeschwören, ihn in meine Gegenwart zurückzuholen? Möchte ich eine Verbindung herstellen, eine Verbundenheit bekräftigen, mich an seine Stelle begeben? Ich war nicht dabei, ich kann und darf mich nicht erinnern, aber ich, der ausgeschlossene Dritte, erinnere mich doch. Tertium non datur? Ich erinnere mich an alles ganz genau. Aus Trotz.
    Ein neu renovierter Badeort an der deutschen Ostseeküste. Blendende, unter dem frischen Anstrich nahezu unsichtbare Bäderarchitektur. An der Farbwand schnörkelten Balkone, rankten Türmchen. Anfang Juli, Azorenhoch.
    Lange windstille Tage. Eine steile Strahlenpyramide stülpte sich über Strandgras und Schenkel, bleichte und rötete, bräunte und schwärzte, brannte sich ein. Einzelne Haufenwolken schickten Schattenfelder nach unten, die sich rasch, wie flüchtende Riesenschafe, über die überbordenden Bäuche bewegten und sekundenweise Kühlung brachten. Die Welt waberte unter der strengen Sonne. Es gab zu viel zu sehen. Man sah es nie ganz. Figuren auf Bauchhöhe durchgeschnitten und, Kopf nach oben, auf die Spiegelfläche gesetzt. Die andere Hälfte, die mit den Beinen, stak dort, wo die Jugend Kopfsprung übte, am Ende der Mole. Sand voller Flitter. Städte hatten einige Viertel verloren, neue bekommen. Ganze Ortschaften waren übertüncht, die Dächer neu eingedeckt. Der ehemalige Grenzstreifen belebte sich, Wildtiere querten ihn, wanderten ihn entlang, grüner Korridor.
    Fromme Badende aus Polen schraken vor der ostdeutschen Freikörperkultur zurück. Sie vollführten turnerische Verrenkungen, um beim Umziehen am Strand stets ein Handtuch so in Position zu halten, daß es ihre Blöße bedeckte. Sie vermieden es überhaupt, sich unter freiem Himmel umzuziehen, lieber blieben sie in nasser Badekleidung hinter ihrem Windschutz. Die polnischen Familien schienen zartere, langbeinigere Kinder zu bekommen, die Eltern hingegen nach der ersten oder zweiten Geburt schneller zu verfetten und die Form zu verlieren. In der Pubertät trafen die Extreme aufeinander, die halbwüchsigen, gazellenhaften Mädchen trugen enorme, wie kaum noch zum übrigen Körper gehörige Brüste vor sich her; vielleicht war es besser, daß sie alle bekleidet blieben.
    Stammgäste aus dem Osten Deutschlands, die regelmäßig diesen Strand besucht hatten, ärgerten sich über den plötzlichen Andrang von auswärts, darüber, daß es nicht mehr ihr Strand war. Sie ärgerten sich über die ausbrechende Schamhaftigkeit, die das, was bis dahin als natürlich gegolten hatte, in etwas Anrüchiges, ja Obszönes verwandelte. Als alle nackt gewesen waren, hatte es keine Probleme gegeben, aber seit hochgeschlossene Katholiken anzügliche Blicke aus den Augenwinkeln warfen, seitdem sie Grad und Anlaß ihrer Erschütterung regelmäßig überprüften, indem sie empört durch die Lücken im Windschutz spähten, seither fühlte man sich von Voyeuren umgeben und konnte ein leichtes Unwohlsein kaum noch leugnen.
    Die Urlauber aus dem Westen zeigten sich verunsichert, wie sie sich zwischen diesen Fronten einzuordnen hatten. Anziehen oder ausziehen? Nahtlose Bräune oder doch eine Kontrollfläche, an der sich vergleichen ließ, wie prächtig die übrige Haut gedunkelt war? Meist fanden sie zu einem Kompromiß, der in diesem Umfeld eine ausreichende Lockerheit demonstrierte und zugleich von den heimischen Gewohnheiten nicht abwich. Sie wechselten die Kleider ohne großes Handtuchtheater, sie ließen für ein paar Sekunden ihren Körper frei, trennten sich von den nassen Badesachen so selbstverständlich wie ein Tier im Fellwechsel, zogen ebenso

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