Die Sonnenposition (German Edition)
hatte die Arbeitswut unseres Vaters geerbt, sie kam nie zur Ruhe, während ich meinesteils Sitzen und Zuhören getrost als Arbeit bezeichnen konnte. Mila kochte nicht gern, im Grunde haßte sie es. Jetzt schüttete sie die Pomeranzen in die Spüle, ließ sie nachlässig aufprallen, und es machte nicht den Eindruck, als habe sie vor, heute noch Schalen in feineStreifen zu schneiden, Fruchtfleisch zu filetieren, Saft auszupressen.
Odilo habe sich geweigert, ihre Wohnung zu betreten, er habe sich geweigert, auf Lenin zu blicken. Später habe er sich geweigert, auf den abgebauten Lenin, die Leninlücke zu blicken. Er hörte die Waschmaschine des Nachbarn, hörte Türen im Treppenhaus schlagen, er hatte sich ein einziges Mal, und auch da nur eine gute Stunde, in der Wohnung aufgehalten und war dann mit ihr in ein Restaurant gefahren. Wenn er in Berlin war, trafen sie sich in ihrem Atelier.
Ich stellte mich zu ihr, klemmte den Rand meines großkarierten Taschentuchs in den Hosenbund, schnitt ein paar Früchte auf und preßte jedem von uns ein Glas Pomeranzensaft aus.
Ich teilte meiner Schwester mit, daß ich auf sie wütend sei. Ich teilte ihr mit, daß ich mich hintergangen fühlte. Ich erklärte, daß mich ihr Verhalten zu bohrendem Grübeln, absurden Mutmaßungen und grundlosem Schuldgefühl treibe. Ich teilte ihr all dies mit, indem ich das Messer laut aufprallen ließ, indem ich mit unnötig hohem Kraftaufwand preßte, ich steigerte mich in einen gewissen Furor hinein, aber meine Schwester reagierte nicht darauf. Ich stellte ihr mit besonderem Nachdruck ein Glas hin. Die Säure zog mir den Hals zusammen. Mila weigerte sich zu trinken.
Sie hantierte lustlos mit dem Obst, sortierte die Früchte, legte die verschrumpelten zur Seite, baute sie zu Pyramiden auf.
Ich wurde hektisch. Sie machte mich mit ihrer Verbissenheit nervös, ihre Überaktivität sprang auf mich über, beinah hätte ich mich am Messer verletzt. Ich schlenderte mit meinem Glas nach nebenan, unterhielt mich durch die Durchreiche mit ihr.
Ich stellte gewissenhaft Fragen zu A und O, Anfang und Ende, die meine Schwester unbeantwortet ließ. Sie redete vor sich hin, ausweichend, irreführend. Kritisierte, daß er wenig Zeit für sie gehabt hatte. Die Arbeit sei ihm wichtiger gewesen. Arbeit, fand sie, werde vorgeschützt, um Kontakt zu vermeiden.
Die Katze störte. Mir schien, daß ich nur die Hälfte mitbekam, weil mir die Katze in der Durchreiche die Sicht versperrte. Ich griff einen Farbstift vom Tisch, rollte ihn in die Zimmerecke, und die Katze sprang von ihrem Podest und fing ihn ein, legte sich mit ihm auf den Rücken, biß in die Kappe und zerkratzte ihn mit allen vier Pfoten zugleich.
Eifersucht, sagte meine Schwester, Zufälle, sagte sie, planlos, sagte sie, instabil. Er habe niemals von mir gesprochen, behauptete sie, wie er ohnehin nicht geschwätzig gewesen sei; allerdings unberechenbar, so daß sie sich auf eine Verabredung niemals habe verlassen können; allerdings von einer eskalierenden Überempfindlichkeit, so daß er Kontakte mehr und mehr mied; allerdings mit einem Ignoranzpotential begabt, dem sie nichts entgegenzusetzen gewußt habe als eine immer mechanischere Innigkeit.
Dann sah ich durch den Rahmen der Durchreiche zu, wie Mila eine Frucht vielfach anritzte und Kaffeebohnen in die Schnitte steckte, rundherum Kaffeebohnen, dazu eine einzige Gewürznelke. Die Hand mit der Pomeranze senkte sich in ein Einmachglas, Schnaps strömte von oben ein, die Hand indes zog sich zurück, verschloß den Deckel. Die gespickte Kugel drehte sich ehrfurchtgebietend in der Flüssigkeit, führte embryonale Bewegungen aus, bis sie die richtige Position erreicht, die Schwere nach unten gerichtet hatte. Mehrere Monate mußte die Orange so schweben oder schwimmen, mehrere Monatedurfte man sie betrachten und verehren, dann konnte man den Likör abseihen und in Flaschen füllen.
Gemeinsames Theoretisieren: Er habe seinem verstorbenen Vater näherkommen wollen; er habe sich von uns, die wir in den Osten gezogen sind, verlassen gefühlt; er habe eine kapitalistische, also unerfüllbare Sehnsucht gepflegt; seine Utopie sei mit der Wende kollabiert; er habe dem Druck nicht mehr standgehalten; er habe das Gefühl gehabt, seine Mutter zu betrügen; seine Begabung am Lauf der Welt scheitern sehen.
An den Wohnzimmerwänden hingen Zeichnungen von Formsteinen aus Beton. Es war derselbe Sichtbeton, der auch draußen den Wohnblock schmückte. Wenn ich zu Mila
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