Die Sonnenposition (German Edition)
ging, kam ich auf dem Weg vom Parkplatz an einer freistehenden Wand aus diesen plastisch-dekorativen Struktursteinen vorbei, ein stilisiertes Wellenornament, das, unterschiedlich zusammengesetzt, wirbelnde Räder oder futuristische Wolkenhimmel ergab. Mila hatte sich auf die eine Grundform beschränkt und verschiedene Anordnungen ausprobiert, hatte alle Elemente gleich ausgerichtet, Serien mit der gelegentlichen Abweichung einer halben Drehung konstruiert, auch völlige Willkür walten lassen und wild kombiniert, wenngleich unter Beibehaltung der Lückenlosigkeit.
Sie war fasziniert von der Kunst am Bau, speziell von den Wand- und Giebelelementen und den durchbrochenen Verbindungsschürzen. Sie interessierte sich dafür, mit welchen Mitteln ein billiger Baukörper kostengünstig verhüllt worden war.
Auf ihrem Arbeitstisch lagen einige eigene Entwürfe ausgebreitet. Sie zeichnete ihre Modelle in die Länge gezogen, elegant, gotisch. Sie ähnelten ihr in Figur und Habitus und waren in teils strenge, teils mächtig sich aufstauende Kostüme gehüllt.Die humanoiden Gestalten trugen die Köpfe von Blaumeisen, Mardern und Hirschkühen. Seit meine Schwester im Kindergarten unsere Familie mit Tiergesichtern gezeichnet hatte, pflegte sie die Ikonographie der Heraldik, der Evangelistendarstellung (geflügelte Löwen, Stiere und Adler), des Comicstrip. Ich erinnerte mich an eine Serie aus ihrer Studienzeit, auf der ein gutgekleideter Geier mit einer vornehm zurechtgemachten Perserkatze kämpfte. Hier und da schaltete sich ein Braunbär ein, trat ein Wiesel vor. Mehrere Mischwesen hatten zwei Köpfe. Man erkannte einige Kung-Fu-Stellungen, einige herrisch aus den Stoffbahnen vorgereckte Handkanten; die Körper blieben sorgsam von flatternden Falten umhüllt.
Immer traten ihre Modelle animalisch auf, auf Modenschauen ließ sie sie Masken umbinden, was für spektakuläre Effekte sorgte. Sie wollte die Kraft betonen, die ein von ihr kreiertes Kleidungsstück ausstrahlte. Ich persönlich war der Meinung, die Köpfe lenkten vom Kleidungsstück ab. Aber die Öffentlichkeit schien diese Meinung nicht zu teilen, und der Erfolg gab ihr recht.
Jetzt lag eine Reihe von Skizzen vor mir, auf denen ein zunächst nur mit wenigen Strichen angedeutetes Modell einer Anreicherung und Verwandlung unterlag. Es wurde körperlicher, ihm wurde Stoff angetan, weite Ärmel hingen bei dieser Kollektion flügelhaft von den Schultern herab, hierfür würde man viel Material verbrauchen, während die Taille schmal blieb, hoch, breit gegürtet. Lockere Striche überlagerten sich, wurden wolkig und dichter, ließen ein weites Gewand entstehen, aus dem ein Kopf ragte, der immer schwanenhafter wurde, eine zum S gebogene Linie erst, dann ein Singschwan, dann ein Höckerschwan.
Meine Schwester hatte diese Zeichnungen mit Spruchbändern versehen, die den Modellkleidern jeweils ein Motto gaben. Dominium generosa recusat – Die Stolze verweigert sichdem Herrn. Fluctuat nec mergitur – Sie mag schwanken, aber sie geht nicht unter. Cor ad cor loquitur – Das Herz spricht zum Herzen. Omnia vincit Amor – Alles besiegt die Liebe.
Ich hatte immer vermieden, aus solchen Darstellungen meine Schlüsse zu ziehen. Ich hatte immer vermieden, meine Schwester zu analysieren. Jetzt aber sah ich mich praktisch gezwungen, diese Modezeichnungen als Psychotest zu betrachten.
Beim Tierzeichnungstest handelt es sich um ein projektives Verfahren, dessen Ergebnisse in höchstem Maße zweifelhaft sind. Die Zeichnungen sind nicht objektiv, sie sind nicht vergleichbar, und eine Deutung ist nicht zuverlässig. Aber sie besitzen einen tiefenpsychologischen Charme, der allen anderen Testverfahren mangelt, sie regen die Phantasie an, führen zu größerer Einfühlung in den Probanden und, größter Kunstfehler, sie verfestigen vage Vorstellungen zur Realität schwarz auf weiß.
Unser Leben besteht aus Gerüchten, die wir über uns selbst erzählen, aus Andeutungen und Berichten anderer, aus Versuchen, die vielen Möglichkeiten, die wir für uns vorgesehen haben, wenigstens das eine Mal in eine unhintergehbare Handlung zu verwandeln. Wir hören ein ständiges Raunen, ein Einflüstern, das uns trösten möchte, uns Vorgänge vorspiegelt, uns glauben macht, es gäbe die Vergangenheit und die Zukunft, ein unaufhörliches Flüstern, das sagt, wer wir sind.
Auf der Rückfahrt steht der Sack neben mir auf dem Beifahrersitz. Mila wollte ihn nicht.
Meine Schwester hat die Pomeranzen
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