Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
wahrscheinlicher, dass es erreicht wird. Allerdings unterliegt auch das Labyrinth selbst auf dem Weg der Evolution. Alte Korridore (ökologische Nischen) können sich schließen, während neue sich auftun. Die Struktur des Labyrinths hängt zum Teil auch davon ab, wer gerade darin unterwegs ist, zum Beispiel welche Art.
3.1 Die Evolution einer Art lässt sich so darstellen, dass die Umwelt ein Labyrinth ist, in dem sich wiederholt Gelegenheiten verschließen oder eröffnen, während das Labyrinth selbst der Evolution unterliegt. In unserem Beispiel führt der Weg von einem primitiven Sozialleben zu einem hoch sozialen Leben.
In jeder Runde des evolutionären Glücksspiels, also von einer Generation zur nächsten, müssen sehr viele Individuen leben und sterben. Allerdings sind es auch nicht unendlich viele. Ihre grobe Anzahl lässt sich, zumindest der Größenordnung nach, plausibel abschätzen. Für den gesamten Verlauf der Evolution von unseren primitiven Säuger-Vorfahren von vor 100 Millionen Jahren bis zu der einzigen Linie, die ihren Weg bis zum Aufkommen des ersten Homo sapiens weiterging, mögen vielleicht 100 Milliarden Individuen nötig gewesen sein.[ 3 ] Ohne es zu wissen, lebten und starben sie alle für uns.
Viele Mitspieler, darunter andere sich entwickelnde Arten, die im Durchschnitt jeweils wenige tausend fortpflanzungsfähige Individuen pro Generation umfassten, gingen im Bestand zurück und starben aus. Wäre es einem Vorfahren aus der langen Linie, die zum Homo sapiens geführt hat, so ergangen, so hätte das Epos Mensch ein abruptes Ende genommen. Unsere vormenschlichen Vorfahren waren weder auserwählt noch unschlagbar. Sie hatten einfach Glück.
Die neuere Forschung verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen kann in ihrem Zusammenspiel heute die Evolutionsschritte erhellen, die zur Natur des Menschen geführt haben; damit erhalten wir wenigstens eine Teillösung für das Problem der «Sonderstellung des Menschen», das Naturwissenschaft und Philosophie immer so belastet hat. In einer zeitlichen Perspektive vom Anfang bis zum Erreichen der menschlichen Natur lässt sich jeder Schritt als Präadaption interpretieren. Mit dieser Sichtweise will ich nicht unterstellen, dass die Arten, aus denen unsere hervorgegangen ist, in irgendeiner Weise auf ein solches Ziel ausgerichtet waren. Vielmehr war jeder Schritt eine eigenständige Adaption – die Reaktion der natürlichen Selektion auf Bedingungen, die zu gegebener Zeit an einem bestimmten Ort im Umfeld einer Art geherrscht haben.
Die ersten Präadaptionen waren die bereits erwähnte Großwüchsigkeit und die relativ eingeschränkte Mobilität, die den Verlauf der Säuger-Evolution im Gegensatz zu der der sozialen Insekten vorbestimmte. Die zweite Präadaption auf der menschlichen Zeitleiste war die Tatsache, dass sich die frühen Primaten vor 70 bis 80 Millionen Jahren auf ein Leben in den Bäumen spezialisierten. Das wichtigste Merkmal, das die Evolution bei diesem Wandel herausbildete, waren Hände und Füße, deren Aufbau das Greifen ermöglichte. Außerdem eigneten sich ihre Form und ihre Muskeln besser dazu, sich von Ast zu Ast zu schwingen, als sie nur zu greifen, um darauf zu sitzen. Noch effizienter wurden sie durch das gleichzeitige Aufkommen von opponierbaren Daumen und großen Zehen. Weiter ging es mit der Herausbildung von flachen Nägeln an den Finger- und Zehenspitzen statt der scharfen, gekrümmten Klauen, wie sie die meisten anderen auf Bäumen lebenden Säugetiere besitzen. Außerdem fanden sich an den Handflächen und Fußsohlen Hautleisten, die das Greifen unterstützten, und Druckrezeptoren, die den Tastsinn verbesserten. Mit dieser Ausstattung konnten frühe Primaten ihre Hände einsetzen, um Früchte zu pflücken und zu zerteilen und zugleich einzelne Samen herauszulösen. Die Kanten der Fingernägel waren imstande, Gegenstände, die die Hände hielten, sowohl zu zerschneiden als auch abzukratzen. Indem diese Tiere für die Fortbewegung ihre Hinterbeine nutzten, konnten sie Nahrung über beträchtliche Entfernungen transportieren, ohne dazu wie eine Katze oder ein Hund die Kiefer einsetzen zu müssen; auch mussten sie die Nahrung nicht mehr für ihre Jungen heraufwürgen wie ein Vogel bei der Brutaufzucht.
3.2 Ein Schimpanse geht zweifüßig durch den Savannenwald von Fongoli, Senegal.
Vielleicht als Zugeständnis an die relativ komplexe, flexible Art der Futterbeschaffung und zugleich an die dreidimensionale,
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