Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
der Reichweite ihrer Territorien und Handelsnetze keinerlei Kenntnis von der Erde. Sie wussten nichts über den Himmel jenseits des Himmelsgewölbes, über dessen Innenseite Sonne, Mond und Sterne wanderten. Um die Rätsel ihrer Existenz zu erklären, glaubten sie an höhere Wesen, die im Übrigen waren wie sie selbst, göttliche Wesen, die eben nicht nur Steinwerkzeuge und Hütten erbauten, sondern das gesamte Universum. Mit dem Aufkommen von Stammesfürstentümern und später politischen Staaten entwickelte sich die Vorstellung, dass es über den erdgebundenen Herrschern, denen sie gehorchten, noch übernatürliche Herrscher geben musste.
Die frühen Menschen brauchten eine Geschichte für alles Wichtige, das ihnen zustieß, weil das Bewusstsein ohne Geschichten und Erklärungen seiner eigenen Bedeutung nicht funktionieren kann. Die beste, ja die einzige Möglichkeit, mit der unsere Vorfahren eine Erklärung für die Existenz an sich aufbauen konnten, war ein Schöpfungsmythos. Und ausnahmslos jeder Schöpfungsmythos statuierte die Überlegenheit des Stammes, der ihn erfand, über alle anderen Stämme. Ausgehend von dieser Annahme, empfand sich jeder religiös Gläubige als Auserwählter.
Organisierte Religionen und ihre Götter wurden zwar im Unwissen über einen Großteil der realen Welt erdacht, aber bedauerlicherweise schon in der frühen Geschichte in Stein gemeißelt. Wie in ihren Anfängen sind sie überall noch heute Ausdruck des Tribalismus, in dem die Mitglieder ihre eigene Identität und ihr besonderes Verhältnis zur übernatürlichen Welt begründen. Ihre Dogmen kodifizieren Verhaltensregeln, die der Gläubige ohne jedes Zögern übernehmen kann. Den heiligen Mythos zu hinterfragen bedeutet, die Identität, den Wert desjenigen zu hinterfragen, der daran glaubt. Deswegen werden Skeptiker sowie Anhänger anderer, ebenso absurder Mythen so rundheraus abgelehnt. In manchen Ländern drohen ihnen Gefängnis oder gar der Tod.
Doch genau die biologischen und historischen Umstände, die uns in die Sümpfe der Ignoranz geführt haben, haben auf andere Weise der Menschheit sehr gute Dienste geleistet. Organisierte Religionen walten über die Übergangsriten von der Geburt bis zum Erwachsensein, von der Ehe bis zum Tod. Sie bieten das Beste, was ein Stamm geben kann: eine engagierte Gemeinschaft, die ehrliche emotionale Unterstützung leistet, die die Menschen annimmt und ihnen verzeiht. Der Glaube an Götter, an einen einzelnen wie an eine Vielfalt, sakralisiert Gemeinschaftshandlungen, etwa die Einsetzung von Herrschern, das Befolgen der Gesetze oder die Erklärung von Kriegen. Der Glaube an die Unsterblichkeit und an eine letzte göttliche Gerechtigkeit ist ein kostbarer Trost; in schwierigen Zeiten stärkt er Entschlossenheit und Kampfeskraft. Über Jahrtausende waren die organisierten Religionen die Quelle für die großartigsten Werke der Kunst.
Warum sind wir dann gut beraten, die Mythen und Götter der organisierten Religionen offen in Frage zu stellen? Weil sie verdummen und entzweien. Weil jede und jeder nur eine Version einer konkurrierenden Vielfalt von Szenarien ist, die eventuell wahr sein könnten. Weil sie die Ignoranz befördern, die Menschen davon abhält, die Probleme der realen Welt zu erkennen, und die sie häufig auf falsche Wege und in katastrophale Handlungen führt. Getreu ihrer biologischen Herkunft spornen die Religionen leidenschaftlich zum Altruismus zwischen ihren Mitgliedern an und weiten ihn auch systematisch auf Außenstehende aus, allerdings gewöhnlich verbunden mit dem Ziel der Bekehrung. Das Engagement für einen bestimmten Glauben ist per definitionem religiöse Engstirnigkeit. Kein protestantischer Missionar rät jemals seiner Herde, den Katholizismus oder den Islam als möglicherweise überlegene Alternative zu betrachten. Aus innerer Logik heraus muss er sie für unterlegen erklären.
Und doch wäre es töricht zu glauben, organisierte Religionen ließen sich in nächster Zeit ganz und gar aufheben und durch eine vernunftbegründete Begeisterung für moralisches Handeln ersetzen. Mit größerer Wahrscheinlichkeit kommt es dazu schrittweise, wie derzeit schon in Europa; mehrere Tendenzen tragen dazu bei. Die stärkste Schubkraft haben die Versuche, religiösen Glauben mit immer größerer wissenschaftlicher Genauigkeit als Produkt der Evolutionsbiologie zu rekonstruieren. Betrachtet man diese Rekonstruktionsversuche im Gegensatz zu den Schöpfungsmythen und deren
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