Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
wird es, dass noch die komplexesten Formen des menschlichen Verhaltens letztlich biologisch begründet sind. Sie stellen die Spezialisierungen dar, die unsere Primaten-Vorfahren über Millionen von Jahren ausgebildet haben. Der unzerstörbare Stempel der Evolution wird sichtbar daran, wie idiosynkratisch die Sinneskanäle des Menschen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit einengen, sofern wir uns keiner Hilfsmittel bedienen. Bestätigt wird er dadurch, wie Programme zur genetischen Bereitschaft und Gegenbereitschaft die geistige Entwicklung bestimmen.
Und doch können wir der Frage nach dem freien Willen nicht ausweichen, der uns, wie einige Philosophen immer noch argumentieren, vor den anderen Lebewesen auszeichnet. Das unbewusste Entscheidungszentrum des Gehirns vermittelt dem Zerebralkortex die Illusion unabhängigen Handelns. Je weiter die wissenschaftliche Forschung die physikalischen Prozesse des Bewusstseins offenlegt, desto weniger Platz bleibt für irgendein Phänomen, das sich berechtigt als freier Wille bezeichnen lässt. Wir sind frei als unabhängige Wesen, aber unsere Entscheidungen sind nicht von sämtlichen organischen Prozessen zu entkoppeln, die unser persönliches Gehirn und unsere Kognition entstehen ließen. Freier Wille ist demnach letztlich biologisch begründet.
Und doch ist es nach allem Ermessen eine Tatsache, dass die Menschheit die weitaus größte Leistung des Lebens ist. Wir sind der Geist der Biosphäre, des Sonnensystems und – wer weiß? – vielleicht der Galaxie. Indem wir über unseren Tellerrand blickten, haben wir gelernt, die sinnlichen Modalitäten anderer Organismen in unsere beengten audiovisuellen Systeme zu übersetzen. Wir wissen viel über die physikalisch-chemischen Grundlagen unserer eigenen Biologie. Bald schon werden wir im Labor einfache Organismen erschaffen können. Wir kennen die Geschichte des Universums und können fast bis an seine Ränder blicken.
Unsere Vorfahren waren eine der etwa zwei Dutzend Tierlinien, die jemals die Eusozialität herausbildeten, die nächsthöhere Ebene biologischer Organisation über dem Organismus. Dabei bleiben Gruppenmitglieder über zwei oder mehr Generationen zusammen, kooperieren, pflegen die Jungen und teilen die Arbeit so, dass die Reproduktion einiger Individuen zulasten anderer gefördert wird. Die Vormenschen waren körperlich sehr viel größer als jedes eusoziale Insekt und Wirbeltier. Von Anfang an besaßen sie ein sehr viel größeres Gehirn. Irgendwann erreichten sie die symbolbasierte Sprache, die Schriftlichkeit und die wissenschaftsbasierte Technologie, die uns weit über den Rest des Lebens stellen. Abgesehen davon, dass wir uns meistens wie Affen verhalten und darunter leiden, dass unsere Lebensspanne genetisch begrenzt ist, sind wir geradezu gottgleich.
Welche dynamische Kraft hob uns auf diese hohe Stufe? Diese Frage ist für unser Selbstverständnis von erheblicher Bedeutung. Es war ganz offensichtlich die natürliche Multilevel-Selektion. Auf der höheren der beiden relevanten Ebenen biologischer Organisation konkurrieren Gruppen mit Gruppen und fördern kooperative soziale Merkmale bei den Mitgliedern derselben Gruppe. Auf der unteren Ebene konkurrieren Mitglieder derselben Gruppe so miteinander, dass eigennütziges Verhalten gefördert wird. Der Gegensatz zwischen den beiden Ebenen der natürlichen Selektion hat in jedem einzelnen Menschen zu einem chimären Genotyp geführt. Er macht jeden von uns halb zum Heiligen, halb zum Sünder.
Die Interpretation der am Menschen greifenden Selektionskräfte, wie ich sie in diesem Buch auf der Grundlage neuester Forschung darstelle, widerspricht der Gesamtfitness-Theorie und ersetzt sie durch ein Modell, bei dem Standardmodelle der Populationsgenetik auf verschiedene Ebenen der natürlichen Selektion angewandt werden. Die Gesamtfitness beruht auf der Verwandtenselektion, bei der Individuen je nach dem Grad ihrer genetischen Verwandtschaft kooperieren oder nicht. Dieser Selektionstyp musste nur weit genug definiert werden und sollte dann alle Formen des Sozialverhaltens erklären, einschließlich der fortgeschrittenen sozialen Organisation. Die alternative Erklärung einschließlich einer mathematischen Kritik der Gesamtfitness-Theorie wurde zwischen 2004 und 2010 vollständig entwickelt.
Angesichts der technischen Komplexität und der Bedeutung des Gegenstands ist zu erwarten, dass die Kontroverse, die der neue Ansatz auslöst, noch über Jahre andauert, vielleicht
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