Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Präferenz für etwas, das man die «Prometheus-Gen»-Hypothese nennen könnte. Genetische Evolution bringe Kultur hervor, so die Anhänger dieser Theorie, aber nur in dem Sinn, dass sie die Fähigkeit zur Kultur schaffe. Mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen akzeptierten die Sozialwissenschaftler damals sowohl das «unbeschriebene» Gehirn als auch das «Prometheus-Gen», um so die Autonomie der Sozial- und Geisteswissenschaften zu bekräftigen. Diese biologisch eindimensionale Sicht der sozialen Evolution wurde außerdem von einer zweiten Kernhypothese abgeleitet, nämlich der seelischen Einheit der Menschheit. Demnach hatte sich die menschliche Kultur in einem zu kurzen Zeitraum entwickelt, als dass genetische Evolution gleichzeitig hätte stattfinden können – zumindest jenseits des prometheischen Allzweck-Genotyps, der die Menschheit von den anderen Tierarten trennte.
Auf den ersten Blick könnte es tatsächlich so aussehen, als würde die kulturelle Evolution die genetische Evolution tendenziell hemmen oder gar umkehren. Dadurch, dass der Mensch Feuer, geschlossene Wohnstätten und warme Kleidung benutzte, konnte er in Teilen der Welt überleben und sich fortpflanzen, in denen es sonst unmöglich gewesen wäre, durch den Winter zu kommen. Und die verbesserten Jagdmethoden und das Kultivieren von Nutzpflanzen ermöglichten es, dass Menschen in Lebensräumen Fuß fassten, in denen sie normalerweise verhungert wären. Warum, so lautet eine berechtigte Frage, sollten wir von Genen gesteuert sein, wenn kulturelle Veränderungen in so kurzen Zeiträumen zu demselben Ergebnis führen können?
Tatsächlich besteht kein Zweifel, dass die kulturelle Evolution die genetische Evolution tendenziell abfedert. Trotzdem häufen sich in den vielen Lebensräumen der Welt nie da gewesene Herausforderungen und Gelegenheiten, denen sich auch – oder zumindest effizienter – durch eine genetische Veränderung unter Führung der natürlichen Selektion begegnen lässt: etwa neue Nahrungsmittel, Krankheiten und Klimabedingungen. Die Explosion an Mutationen nach der Auswanderung aus Afrika vor etwa 60.000 Jahren schuf eine Vielzahl solcher potenziell adaptiver neuer Gene. Es wäre erstaunlich, wenn es bei den verschiedenen Populationen in dem Maße, wie sie die Welt besiedelten, nicht zur genetischen Evolution gekommen wäre.[ 3 ]
Das Schulbeispiel der Gen-Kultur-Koevolution in den letzten Jahrtausenden ist die Entwicklung der Laktosetoleranz bei Erwachsenen. Bei allen vorausgehenden menschlichen Generationen wurde Laktase, also das Enzym, das den Milchzucker Laktose in abbaubare Zucker umwandelt, nur bei Kleinkindern produziert. Wurden Kinder von der Muttermilch entwöhnt, so stellten ihre Körper automatisch die weitere Laktaseproduktion ein. Als vor 9000 bis 3000 Jahren die Viehzucht aufkam, und zwar unabhängig voneinander an verschiedenen Orten in Europa und Ostafrika, breiteten sich kulturell bedingt Mutationen aus, die die Laktaseproduktion bis ins Erwachsenenalter beibehielten, so dass weiterhin Milch verzehrt werden konnte. Der Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil aus dem Verzehr von Milch und Milchprodukten erwies sich als grandios. Kuh-, Ziegen- und Kamelherden gehören zu den produktivsten und zuverlässigsten Futterquellen, die dem Menschen ganzjährig zur Verfügung stehen. Genetiker haben vier unabhängige Mutationen entdeckt, die die Laktaseproduktion verlängern, eine in Europa und drei in Afrika.[ 4 ]
Die Laktosetoleranz ist ein Beispiel dafür, was Ökologen und Evolutionsforscher als «Nischenkonstruktion» bezeichnen. Bei der Gen-Kultur-Koevolution der Laktaseproduktion wurde die Nische erschaffen, um die Viehhaltung als wichtige neue Nahrungsquelle zu integrieren. Mutierte Gene waren zunächst in sehr geringen Frequenzen vorhanden und ersetzten schnell die anderen, älteren Varianten. Überwiegend handelte es sich dabei um Protein-codierende Gene, die am häufigsten für Veränderungen in bestimmten Gewebetypen verantwortlich sind, in diesem Fall im Darmtrakt.[ 5 ]
In den letzten fünfzig Jahren wurden von Anthropologie und Psychologie zahlreiche weitere solcher ineinandergreifenden Prozesse entdeckt. Insgesamt bilden sie eine Klasse genetischer Veränderungen, die sich vom lokalen Erwerb der Laktosetoleranz erheblich unterscheiden. In der modernen Menschheit sind sie so universell wie uralt – es gab sie schon vor dem Aufkommen des modernen Homo sapiens und zumindest in einzelnen Fällen selbst vor der
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