Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
zwischen Kibbuzniks geschlossen wurde, die seit Geburt zusammen aufgewachsen waren. Es gab nicht einmal einen einzigen Fall heterosexueller Aktivität, obwohl die Erwachsenen im Kibbuz das gar nicht explizit ablehnten.
Aus diesen Beispielen und vielfältigen weiteren anekdotischen Belegen aus anderen Gesellschaften wird ganz deutlich, dass das menschliche Gehirn so programmiert ist, dass es einer einfachen Grundregel folgt: Habe kein sexuelles Interesse an denjenigen, die dir schon in deinen frühesten Lebensjahren besonders vertraut waren.
Kann es sein, dass der Mensch nicht dem Westermarck- Effekt unterliegt, sondern stattdessen ganz einfach seine Intelligenz und sein Gedächtnis nutzt, um zu erkennen, dass Inzest zwischen Geschwistern und zwischen Eltern und Nachkommen zu Erbschäden führt? Die Antwort ist ein klares Nein. Als der Anthropologe William H. Durham die Glaubensvorstellungen von 60 Gesellschaften weltweit nach Bezügen auf irgendeine Form rationalen Verständnisses von den Folgen des Inzests untersuchte, bestand nur bei zwanzig von ihnen überhaupt eine Spur von Bewusstsein dafür. Die Tlingit-Indianer am nordwestlichen Pazifik etwa begriffen ganz klar, dass geschädigte Kinder häufig der Paarung sehr enger Verwandter entstammen. Andere Gesellschaften wussten das nicht nur, sondern entwickelten sogar volkstümliche Theorien zur Erklärung dafür. Die skandinavischen Lappen sprachen von Mara , dem Verhängnis, das Partner durch Inzest erschaffen und an ihre Nachkommen weiterreichen. Auf derselben Schiene glaubten die Kapauku auf Neuguinea, beim Vollzug des Inzests werde die Lebenssubstanz beschädigt. Das indonesische Volk der Sulawesi neigte einer eher kosmischen Interpretation zu. Ihnen zufolge wird bei jeder Paarung zwischen Partnern mit bestimmten konfliktuellen Beziehungen, etwa zwischen nahen Verwandten, die Natur auf den Kopf gestellt.[ 11 ]
Erstaunlicherweise fanden sich zwar bei 56 von Durhams 60 Gesellschaften Inzestmotive in einem oder mehreren ihrer Mythen, aber nur fünf enthielten Berichte von negativen Folgen. Etwas häufiger wurde solchen Transgressionen ein Nutzen zugeschrieben, insbesondere die Zeugung von Riesen und Helden. Doch selbst da galt Inzest als etwas Besonderes, wenn nicht Anormales.
Der Westermarck-Effekt ist insofern eine epigenetische Regel der Gen-Kultur-Koevolution, als er die ererbte Veranlagung von Individuen darstellt, sich für eine von mehreren (in diesem Fall zwei) Optionen zu entscheiden und sie über die Kultur zu vermitteln. Eine medizinisch-genetische Parallele dazu sind die sogenannten Suszeptibilitätsgene für Krebs, Alkoholismus, chronische Depression und viele andere der über eintausend bekannten Erbkrankheiten. Wer diese Gene besitzt, ist nicht zwangsläufig dazu verurteilt, das Merkmal zu erwerben, in bestimmten Umgebungen besteht für ihn aber ein überdurchschnittliches Risiko dafür. Wer genetisch zum Mesotheliom neigt und in einem Gebäude mit Asbeststaub arbeitet, bildet die Krankheit mit höherer Wahrscheinlichkeit aus als seine Kollegen. Wer genetisch zum Alkoholismus veranlagt ist und im Umfeld von Alkoholikern sozialisiert wird, neigt stärker zur Entwicklung einer Abhängigkeit als seine genetisch weniger veranlagten Freunde. Die epigenetischen Verhaltensregeln, die die Kultur formen und durch natürliche Selektion entstanden sind, wirken genauso, aber in entgegengesetzter Richtung. Sie sind die Norm, und starke Abweichungen davon werden wahrscheinlich entweder durch kulturelle oder durch genetische Evolution oder durch beides abgeschliffen. So gesehen erfüllen sowohl die genetischen Regeln der Gen-Kultur-Koevolution als auch Krankheitsanfälligkeiten die weite Definition des Wortes «Epigenetik» durch das amerikanische National Institute of Health als «Veränderungen in der Regulation der Genaktivität und -expression, die nicht durch die Gensequenz festgelegt sind», und zwar «sowohl erbliche Veränderungen der Genaktivität und -expression (bei den Nachkommen von Zellen oder Individuen) als auch stabile, langfristige Veränderungen im Transkriptionspotenzial einer Zelle, die nicht zwangsläufig erblich sind».[ 12 ]
20.2 Wie das Gehirn Farbe erschaft. Lichtfrequenzen werden in der Netzhaut in grobe Kategorien unterteilt, die vom Gehirn als Farben klassifiziert werden sollen. Nervenimpulse gehen von der Netzhaut durch den Sehnerv zu den lateralen Kniehöckern im Zwischenhirn, eine Art großes Durchgangs- und Kontrollzentrum. Von
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