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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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echten Phobien auszuweiten); instinktiv nicht vorbereitet sind wir dagegen, auch auf andere Reptilien wie Schildkröten und Eidechsen mit ähnlichem Ekel zu reagieren. Vorbereitetes Lernen bewirkt, dass wir eine grüne Flusslandschaft schön finden, uns aber tief in dunklen Wäldern spontan nicht wohlfühlen. Solche Reaktionen erscheinen uns «natürlich», obwohl sie erst erlernt werden müssen – und genau das ist der Punkt.
    Wie geht die Evolution solcher epigenetischen Regeln vor sich? Ich begann mich in den 1970er Jahren intensiv mit diesem Prozess auseinanderzusetzen, als die Anlage-Umwelt-Debatte tobte und die Kontroverse über genetischen oder kulturellen Einfluss auf die Entwicklung politisch interpretiert wurde und die Debattierenden zur Weißglut trieb. Am Ursprung des Problems lag meines Erachtens die Art und Weise, wie die Evolution der Gene die Evolution der Kultur beeinflusst. Diese Wechselwirkung barg, wie sich herausstellte, eine theoretische Herausforderung von außerordentlich interessanter Schwierigkeit.
    1979 forderte ich Charles J. Lumsden, einen jungen theoretischen Physiker, der sein Talent schon unter Beweis gestellt hatte, auf, zu diesem Thema mit mir eine Studie durchzuführen. Schon bald merkten wir, dass der Prozess sich nur dann entwirren ließ, wenn wir das Rätselhafte daran nicht als ein, sondern als zwei ungelöste Probleme behandelten. Erstens mussten wir die instinktive, also nichtkulturelle Grundlage der menschlichen Natur identifizieren. Zweitens lautete das noch weniger lösbare Problem, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Evolution von Genen und der Evolution der Kultur herzustellen, die «Gen-Kultur-Koevolution», wie wir ihn zu nennen beschlossen. Seit einiger Zeit war klar, dass viele Eigenschaften des menschlichen Sozialverhaltens erblich sind, und das sowohl in Bezug auf die Art insgesamt als auch auf Unterschiede zwischen den Mitgliedern derselben Population. Ebenso war klar, dass die angeborenen Eigenschaften der menschlichen Natur sich zwangsläufig als Anpassungen herausgebildet hatten. Außerdem mutmaßten wir, dass des Rätsels Lösung darin lag zu bestimmen, inwieweit beim Menschen eine Bereitschaft oder eine «Gegenbereitschaft» zum Erlernen von Kultur besteht. Nach zweijähriger Arbeit präsentierten Lumsden und ich schließlich die erste Theorie der Gen-Kultur-Koevolution.[ 2 ]
    Andere Forscher übernahmen diesen Begriff, legten aber starke Betonung auf die kulturelle Evolution. Sie betrachteten die genetische Evolution vor allem als Potenzial, das die Kulturfähigkeit ermöglichte, oder aber als eines von zwei parallel verlaufenden Gleisen, das mehr oder weniger unabhängig neben der kulturellen Evolution her verlief. Wenig Augenmerk legten sie auf das Zusammenspiel, die epigenetischen Regeln oder die genetischen Komponenten der Koevolution.

    20.1 Die einzelnen Phasen, die von der individuellen Entscheidung zur Schaffung der Vielfalt bei den Kulturen führen, werden hier am Beispiel der Körperbemalung bei den Tapirapé-Indianern in Brasilien illustriert. Die Vorgänge werden in abstrakter Form dargestellt, um sie in die quantitative Theorie der Gen-Kultur-Koevolution einzufügen. Die Reihenfolge der Vorgänge von oben nach unten: Der Einzelne entscheidet, ob er seinen Körper bemalen will oder nicht, und wechselt mehr oder weniger oft von der einen Option zur anderen. Wie oft er seinen Entschluss ändert, hängt von der Häufigkeit ab, mit der andere sich für diese oder jene Alternative entscheiden. Jedes Individuum einer Familiengruppe (die dritte Gruppe von oben) oder Gesellschaft bemalt entweder den Körper oder nicht. Nach diesen Feststellungen kann der Anthropologe (unterste Gruppe) die Wahrscheinlichkeit dafür abschätzen, dass ein bestimmter Prozentsatz der Angehörigen der Gruppe den Körper bemalt, das heißt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Verhaltensverteilung für die gesamte Gruppe gilt.
    Diese Einseitigkeit ist erstaunlich; schließlich gab es bereits in den 1970er und 1980er Jahren Belege für genetische Eigenschaften, die üblicherweise als Teil der «menschlichen Natur» betrachtet werden und einige Aspekte der kulturellen Evolution greifbar beeinflussten. Diese Schieflage ist vielleicht auf eine übertriebene Rücksicht auf die Sicht des Geistes als «unbeschriebenes Blatt» zurückzuführen, die die Existenz eines Instinkts beim Menschen ganz leugnete. In den 1970er und 1980er Jahren herrschte eine generelle

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