Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Natur des Menschen in ihrer alltäglichen Erscheinungsform. Ihr intuitiver Ausdruck bildet die Substanz der Kunst und den Grundstock der Sozialwissenschaften. Und doch ist weiterhin schwer zu fassen, was sie wirklich ist. Vielleicht hat diese andauernde Unschärfe einen emotionalen, sehr menschlichen Grund. Sollte die rohe, ungeformte Natur des Menschen entdeckt, der Stein des Weisen damit gefunden werden, wie sähe sie aus? Worin bestünde sie? Würde sie uns gefallen? Vielleicht noch besser gefragt: Wollen wir das wirklich wissen?
Vielleicht möchten die meisten Menschen einschließlich vieler Gelehrter die Natur des Menschen zumindest teilweise lieber im Dunkeln halten. Sie ist das Ungeheuer im Fiebersumpf des öffentlichen Diskurses. Ihre Wahrnehmung wird durch den idiosynkratischen, persönlichen Blick auf sich selbst und die Erwartung an die eigene Person verzerrt. Die Ökonomen haben die menschliche Natur im Großen und Ganzen umfahren, während die Philosophen, die so kühn waren, sie erkunden zu wollen, sich unterwegs immer verrannt haben. Theologen neigen zur Kapitulation und weisen sie in unterschiedlichen Anteilen Gott und dem Teufel zu. Politische Ideologien von Anarchismus bis Faschismus definieren sie zu ihrem egoistischen Vorteil.
Dass es eine Natur des Menschen überhaupt gibt, leugneten die meisten Sozialwissenschaftler im vergangenen Jahrhundert ganz. Obwohl sich die Beweise mehrten, folgten sie dem Dogma, alles Sozialverhalten sei erlernt, die gesamte Kultur sei das Produkt der Geschichte, die von einer Generation an die nächste weitergereicht wird. Die Anführer der konservativen Religionen dagegen neigten zu dem Glauben, die Natur des Menschen sei eine fixe, von Gott gewährte Eigenschaft – und nur die Privilegierten, die Seinen Willen verstehen, könnten sie für die Massen auslegen. In seiner Enzyklika Humanae Vitae erklärte etwa Paul VI. im Jahr 1969: «Nur wenn der Mensch sich an die von Gott in seine Natur eingeschriebenen und darum weise und liebevoll zu achtenden Gesetze hält, kann er zum wahren, sehnlichst erstrebten Glück gelangen.» Insbesondere, so erklärte er, verböten die göttlichen Gesetze über die Natur des Menschen jeglichen Einsatz künstlicher Empfängnisverhütung.
Meines Erachtens macht umfassendes Material aus den verschiedensten Zweigen der Natur- und Geisteswissenschaften es heute möglich, die Natur des Menschen klar zu definieren. Doch bevor ich diese Definition vorlege, möchte ich zunächst erklären, was sie nicht ist. Die Natur des Menschen sind nicht die Gene, die sie bedingen. Diese legen die Regeln fest, nach denen sich Gehirn, Sinnesorgane und Verhalten entwickeln, die dann die Natur des Menschen hervorbringen. Genauso wenig lassen sich die von der Anthropologie identifizierten Universalien der Kultur kollektiv als menschliche Natur definieren. Folgende 67 sozialen Verhaltensweisen und Institutionen etwa sind all den Hunderten von Gesellschaften gemeinsam; George P. Murdock listete sie in seiner klassischen Studie von 1945[ 1 ] in den Human Relations Area Files auf (hier in alphabetischer Reihenfolge):
Aberglaube über Glück und Unglück, Alterseinteilungen, Arbeitsteilung, Begräbnisriten, Besänftigung übernatürlicher Wesen, Bestrafung, Besuchen, Bevölkerungspolitik, Brautwerbung, Chirurgie, Eheschließung, Eigentumsrechte, Erbschaftsregeln, Erziehung, Eschatologie, Ethik, Ethnobotanik, Etikette, Familienfeiern, Folklore, Gastfreundschaft, Geburtshilfe, Geistheilung, Gesetze, Gesten, Grußsitten, Haartracht, Handel, Hellseherei, Hygiene, Inzesttabus, Kalenderführung, Kochen, kooperative Arbeit, Körperschmuck, Kosmologie, Magie, Mahlzeiten, Medizin, Nutzung des Feuers, Organisation der Gemeinschaft, Personennamen, Regierung, religiöse Rituale, Sauberkeitstraining, Schenken, Scherzen, Schmuckkunst, Schwangerschaftsbräuche, Seelenbegriff, sexuelle Grenzen, Spiel, sportliche Betätigung, Sprache, Statusdifferenzierung, tabuisierte Nahrungsmittel, Tanz, Traumdeutung, Übergangsriten, Verwandtschaftsgruppen, Verwandtschaftsnamen, Weben, Werkzeugherstellung, Wetterbeobachtung, Wochenbettfürsorge, Wohngesetze, Wohnstätten.
Allzu gerne würde man davon ausgehen, diese Liste sei nicht nur wirklich bezeichnend für Menschen, sondern unausweichlich für die Evolution jeder Art in egal welcher Galaxie, solange sie auf das menschliche Niveau hoher Intelligenz und komplexer Sprache vordringt, unabhängig davon, welche erblichen Voranlagen sie
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