Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
mitbringt. Und doch ist das nahezu sicher nicht der Fall, weil man sich durchaus andere Welten vorstellen kann, in denen große Landlebewesen andere Kombinationen kultureller Merkmale ausbilden. Es wäre voreilig, davon auszugehen, dass jede dieser theoretischen Universalien genetischer Natur ist. Besser betrachtet man jedenfalls die menschlichen Universalien als prognostizierbare Produkte von etwas Grundsätzlicherem.
Wenn der genetische Code hinter der Natur des Menschen zu eng an seiner molekularen Grundlage klebt und kulturelle Universalien zu weit davon entfernt sind, so folgt daraus, dass man nach einer erblichen Natur des Menschen am besten dazwischen sucht, also in den von den Genen vorgegebenen Regeln der Entwicklung, über die die Universalien der Kultur geschaffen werden.
Die Natur des Menschen besteht in den ererbten Regelmäßigkeiten der mentalen Entwicklung, die für unsere Art typisch ist. Gemeint sind damit die «epigenetischen Regeln», die über einen langen Zeitraum der frühen Vorgeschichte durch die Wechselwirkung der genetischen und der kulturellen Evolution entstanden sind. Diese Regeln benennen die genetischen Vorlieben dafür, wie unsere Sinne die Welt wahrnehmen, die symbolische Codierung, in der wir die Welt darstellen, die Handlungsmöglichkeiten, die wir uns automatisch eröffnen, und die Reaktionen, die uns am einfachsten und lohnendsten erscheinen. Epigenetische Regeln beeinflussen etwa, wie wir Farbe sehen und sprachlich einordnen, und das in Prozessen, die allmählich in den Blick der Physiologie und gelegentlich gar der Genetik geraten. Epigenetische Regeln bewirken, dass wir die Ästhetik von Kunstwerken nach abstakten Elementarformen und dem Grad ihrer Komplexität beurteilen. Sie bestimmen, welche Individuen wir grundsätzlich sexuell am attraktivsten finden. Sie führen uns differenziert zum Erwerb von Ängsten und Phobien vor Umweltgefahren, etwa vor Schlangen oder vor großer Höhe; zur Kommunikation über bestimmte Gesichtsausdrücke und Formen der Körpersprache; zur Eltern-Kind-Bindung; zur Partnerbindung; und so weiter, quer durch die verschiedensten Kategorien des Verhaltens und des Denkens. Die meisten epigenetischen Regeln sind offensichtlich sehr alt, stammen aus unserer Millionen Jahre alten Säugetiergeschichte. Andere, etwa die Stadien der Sprachentwicklung, sind nur etliche hunderttausend Jahre alt. Und zumindest eine, die adulte Laktosetoleranz für Milch und damit das Potenzial für eine Milchprodukt-basierte Kultur in einigen Populationen, ist nur wenige tausend Jahre alt.
Wie es die Vorsilbe epi- im Wort «epigenetisch» impliziert, sind die Regeln der physiologischen Entwicklung genetisch nicht fest vorgegeben. Sie sind nicht bewusst steuerbar, genauso wenig wie das autonome «Verhalten» des Herzschlags und des Atemvorgangs. Zugleich sind sie weniger starr als reine Reflexe wie Augenzwinkern und Kniesehnenreflex. Der komplexeste Reflex ist die Schreckreaktion. Tauchen Sie unbemerkt hinter einer anderen Person auf und machen ein plötzliches lautes Geräusch – einen Schrei oder der Knall zweier zusammenstoßender Gegenstände –, so reagiert diese Person schneller, als der Frontallappen im Gehirn die Reaktion verarbeiten kann, indem sie den Körper entspannt, die Augen schließt, den Mund aufreißt, den Kopf nach vorne fallen lässt und die Knie leicht beugt. In der freien Natur wie im modernen Leben bereitet diese Reaktion uns sofort und unbewusst auf die Kollision oder den Hieb vor, der gleich zu erwarten ist. Oder die Reaktion rettet uns das Leben vor dem Angriff eines Feindes oder Raubtiers. Die Schreckreaktion ist starr genetisch programmiert und nicht Teil der menschlichen Natur, obwohl wir das intuitiv meinen. Sie ist ein typischer Reflex, der vollständig außerhalb des Bewusstseins abläuft.
Verhaltensformen, die auf epigenetischen Regeln beruhen, sind nicht fest programmiert wie Reflexe. Vorangelegt sind vielmehr die epigenetischen Regeln, und genau sie stellen den wahren Kern der menschlichen Natur dar. Diese Verhaltensformen werden erlernt, aber der Lernprozess ist, wie es in der Psychologie heißt, «vorbereitet». Beim vorbereiteten Lernen besteht eine angeborene Bereitschaft zum Lernen, eine Option wird also eher verstärkt als eine andere. Andere Optionen unterliegen einer «Gegenbereitschaft», gelegentlich werden sie sogar aktiv vermieden. Wir sind zum Beispiel vorbereitet, Angst vor Schlangen sehr schnell zu erlernen (und sogar zu
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